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GegenStandpunkt 1-17


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Der ohnmächtige Hebel, den die Arbeitervertretung in Sachen ‚Beschäftigungssicherung‘ zu bieten hat, nämlich die sozialfriedliche Abwicklung der nötigen Opfer der Umwälzung aller Beschäftigungsverhältnisse, fällt ganz einfach zusammen mit dem elementarsten Dienst an ihrer Klientel: dem ‚Erhalt‘ genau der Arbeitsplätze, die es jeweils gibt, und die genau so ausgestattet und ausgestaltet sind, wie es die Unternehmensrechnung gebietet. Wenn sie mit dieser Tarifpolitik nach eigener Auskunft die „Strahlkraft des Normalarbeitsverhältnisses“ sichert, „das sich durch sichere Arbeit, geschützt durch Gesetz und Tarifverträge, festes und ausreichendes Einkommen auszeichnet“, dann lebt diese Strahlkraft ganz sicher nicht von einer nüchternen Prüfung der Frage, wofür diese Einkommen ausreichen und wie sicher und fest sie der Schutz durch Gewerkschaft und Sozialstaat eigentlich macht. Strahlend ist das alles nur im Vergleich zur wachsenden Welt der ‚atypischen‘ Beschäftigung, die die Gewerkschaften heute herausfordert.

      Anno 2017 erstreckt sich die tarifpolitische Zuständigkeit der deutschen Gewerkschaften nur noch auf etwas mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten. Und neben der vielbeklagten Tarifflucht, dem Dauereinsatz von Zeitarbeit, Praktika und Kettenbefristung, Minijobs und ausländischen Wanderarbeitern hebeln deutsche Unternehmen und z.T. auch öffentliche Arbeitgeber die gewerkschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten in die ‚Gestaltung der Arbeitswelt‘ darüber aus, dass sie die Arbeit gar nicht mehr von ‚abhängig Beschäftigten‘ verrichten lassen. Sie schreiben zu erledigende Tätigkeiten kreativ als ‚Werke‘ aus, um deren Vergabe sie ‚Soloselbständige‘ konkurrieren lassen; im IT-Sektor erledigen ‚Crowdworker‘ ihr ‚Clickwork‘, indem sie einander ganz selbständig im Buhlen um Aufträge unterbieten und dergleichen mehr: Arbeitsalltag für ein Prekariat, das den größten Niedriglohnsektor Europas bevölkert – und viel zu tun für eine Gewerkschaft, die ihren Anspruch auf Interessenvertretung auf alle Lohnabhängigen erstreckt.

      Mit dem bloßen Anspruch müssen deutsche Gewerkschaften sich auch dort nicht begnügen, wo sie über keine wirksamen Ansatzpunkte verfügen. In der deutschen sozialen Marktwirtschaft kennen sie den Staat als Ansprechpartner, der sich der Leiden der Lohnabhängigen auf seine Weise längst umfassend angenommen hat – als die ‚soziale Frage‘, die er stets im Griff haben will. Er hat dem lohnabhängigen Teil seiner Bevölkerung nicht nur die allgemeinen Bürgerrechte spendiert, sondern lauter soziale Extravorkehrungen, die die ‚sozial Schwachen‘ zum Leben unbedingt brauchen. Auf dessen Macht zur Korrektur auch der modernsten prekären Verhältnisse setzt der DGB und erteilt sich den Auftrag, die Inhaber der Staatsmacht von den vielen Korrekturnotwendigkeiten zu überzeugen. Dass die angesprochene Korrekturinstanz selbst maßgeblich an der Herbeiführung der beklagten Zustände beteiligt ist, beweist den gewerkschaftlichen Liebhabern des Sozialstaats nur umso deutlicher, wie unentbehrlich sie dafür sind, die Politiker auf den rechten Weg zurückzuführen. Und sie beweisen, wie robust diese Liebe ist, wenn sie die mit den verhassten Hartz-Gesetzen begonnenen Reformen des Sozialstaats unter den irreführenden Begriff der ‚Deregulierung‘ fassen: In den neuen Regeln des Arbeitsmarkts, die gewiss nicht weniger geworden sind darüber, dass sie so eindeutig unternehmerfreundlich ausfallen, sehen sie die Abwesenheit von Regeln; der staatliche Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen – das berühmte ‚Besitzstandsdenken‘ – wird als Unterlassung dessen gedeutet, was doch die eigentliche, schützende Aufgabe des Staates wäre, deren entschlossene Inangriffnahme die lohnabhängige Mehrheit so dringend braucht. Deswegen ist eine „Neuordnung des Arbeitsmarktes durch“ – eben – „den Gesetzgeber unerlässlich“ – und wofür? – „um unsichere Beschäftigungsverhältnisse zu begrenzen“. Das Leitmotiv: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ macht sich der DGB zwar nicht zu eigen, hinter seine brutale Wahrheit will aber auch er nicht zurück: Der Missbrauch von Zeitarbeit, Werkverträgen, Befristung und Minijobs gehört bekämpft, ihr Gebrauch geht nämlich in Ordnung, solange deutsche Unternehmen sie für ihr Wachstum brauchen und so ‚Beschäftigung sichern‘. In der Festlegung der richtigen Grenzen durch die Politik liegt das Ziel gewerkschaftlicher Lobbyarbeit, die damit genau an der richtigen Adresse ist. Denn Arbeitnehmerfreunde mögen es dem deutschen Staat zwar vorwerfen, aber so kurzsichtig, das Soziale aus dem Blick zu verlieren, gerade wenn er die Lohnzahlung auf seinem Standort ausdrücklich davon befreit, einen Lebensunterhalt gewährleisten zu sollen, ist er wirklich nicht. Es sind in der Tat seine sozialen Gesichtspunkte, auf die sich die Vertreter der Lohnarbeiterbelange berufen, um von der Politik Verbesserungen einzufordern, die oft genug nur darin bestehen, weitere Verschlechterungen zu bremsen.

      So verweisen Gewerkschafter gerne auf die nachteilige Wirkung der ‚atypischen‘ Beschäftigungsformen nicht nur auf die Konten der Arbeiter, sondern auch auf die staatlichen Sozialkassen, die mit der klassischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Stammbelegschaften doch viel verlässlicher aufgefüllt werden. Wenn aber die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts bei realistischer Betrachtung nur mit einem gehörigen Anteil von ‚working poor‘ zu sichern ist, dann wirbt der DGB für eine Regulierung, die drohenden Folgeproblemen wie Alters- und Kinderarmut Rechnung trägt. Und wenn trotz aller guten Argumente für die Berücksichtigung der sozialen Interessen ihrer Klientel die Neuregelung der Zeitarbeit auch wieder zu wünschen übrig lässt, der Missbrauch von Werkverträgen partout nicht eingedämmt wird und Flüchtlinge integrationsförderlich zum Sonderangebot im Billiglohnbereich hergerichtet werden, dann kennen Gewerkschafter immer noch einen unschlagbaren Einwand gegen solch unsoziale Fehlgriffe: „Wir dürfen keine Standards aufgeben, weder bei den Arbeitsbedingungen noch beim Mindestlohn. Wir brauchen sie weiterhin als untere Haltelinie, um die Spaltung nicht nur des Arbeitsmarkts, sondern der Gesellschaft zu verhindern.“ Das von ihnen betreute Arbeitnehmerinteresse behandeln deutsche Gewerkschafter ziemlich schamlos als von „Haltelinien“ einzuzäunende Restgröße, für die sie als soziale Rechtsanwälte und Wortführer eines gesamtgesellschaftlichen ‚Wir‘ gegenüber dem Staat eintreten: Die Begünstigten müssen sich in ihren Umständen aufgehoben sehen und nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen! Das ist das elementare demokratisch-marktwirtschaftliche Versprechen der ‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ – so viel sozial muss sein. Dass der von der ansonsten drohenden ‚sozialen Spaltung‘ betroffene Staat dann nach seinem Kalkül verbindlich festlegt, wie viel das ist, ist im Preis einer solchen gewerkschaftlichen Interessenvertretung inbegriffen.

      Nirgends zeigt sich der gewerkschaftliche Sinn für die Kalkulationen, von denen die ihrer Mitglieder abhängen, deutlicher als beim gesetzlichen Mindestlohn. Schon in der langjährigen Werbung für das Gesetz zur ‚Verhinderung von Lohnarmut‘ führt der DGB die Vorteile an für die Konjunktur, für den fairen Wettbewerb der Unternehmerschaft, für die Entlastung des Staatshaushalts etc. – so selbstverständlich gehen die gewerkschaftlichen Anwälte staatlicher Schranken der Lohndrückerei davon aus, dass das von ihnen vertretene Interesse eine abhängige Variable der maßgeblichen Interessen von Unternehmerschaft und Staat ist; und genauso selbstverständlich ist ihnen, dass die Gewerkschaft als Organisation der Arbeiterschaft den Verschlechterungen der Lebenslage der Lohnabhängigen nichts entgegenzusetzen hat, die sich in ihrem alternativlosen Bemühen um ihr individuelles Einkommen für Löhne verdingen, die keinem mehr ein Auskommen bieten. Das wird absehbar auch so bleiben, das steht für die Arbeitervertretung felsenfest, so dass eben nur der Staat da einen Boden einziehen kann. Was den arbeitnehmerfreundlichen Gehalt der gesetzlichen Regelung ausmacht, den die heutige Gewerkschaft da feiert, so hat Marx den bereits im vorletzten Jahrhundert kritisch auf den Punkt gebracht: „Zum Schutz gegen die ‚Schlange ihrer Qualen‘ müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.“ Im Vergleich zum damaligen Streit für eine gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages ist allerdings ein entscheidender gesellschaftlicher Fortschritt unverkennbar: Der moderne Sozialstaat erspart den Arbeitern und ihrer Gewerkschaft die Probe aufs Exempel, ob sie sich angesichts der ruinösen Konsequenzen ihrer eigenen Konkurrenz je wieder zusammengerottet hätten, um dem Staat ein Gesetz abzutrotzen, und spendiert