»Mensch, Stefan, was hat die Hexe nur mit dir gemacht?«
Er meint natürlich Annekatrin. Ich spare mir eine Antwort. Warum sollten wir die endlosen Gespräche wieder aufwärmen? Er hat mich oft genug gewarnt. Vor ihr. Vor ihren grünen Augen, in denen man ertrinkt. Vor ihrem Klammern, das einem die Luft zum Atmen nimmt. Ich weiß das alles, Michael.
Auf eine Antwort wartet er sowieso nicht. Also drehe ich mich jetzt doch um, blicke ihm kurz in die Augen und verlasse dann den Laden. Der Wind ist noch eisiger geworden. Es wird wohl weiße Weihnachten geben.
»Du arbeitest hier in der Schanze?« Er deutet in Richtung Neuer Pferdemarkt. Mein Umweg war also sinnlos. Vermutlich ist er mir oft genug unbemerkt gefolgt und hat die Sache mit Dr. Clarissa Young längst herausgefunden.
»Ich helfe nur aus. Bei einer Psychologin.«
Michael lacht.
»Psychologische Beratung und Coaching. Vermutlich ohne Bezahlung, was?«
Auch darauf antworte ich nicht. Annekatrin braucht ihre Therapie, doch leisten kann sie sich das alles längst nicht mehr. Also helfe ich bei Dr. Young aus. So fing alles an. Mein Wissen als Techniker und Computerspezialist gegen ihre Coachingstunden. Ist doch ein faires Geschäft.
Michael fegt mit der linken Hand die weißen Flocken von der Motorhaube eines VW Käfers. Sie kleben nicht. Zu frisch. Ich will nicht an Annekatrin denken und denke deshalb einfach an den Schnee. Wie er rostige Fahrräder am Straßenrand in kuriose Kunstobjekte verwandelt. Wie er sich schwer auf die Markisen legt und auf die Leuchtreklamen. Wie er dafür sorgt, dass es still wird in der Straße, und ich in all dem Trubel meinen Atem hören kann. Und Michaels Schritte.
»Sieh mich bitte an, wenn ich mit dir rede.« Seine Stimme ist plötzlich leise. »Sie hat dir alles genommen, nicht wahr?«
Ich blicke ihn nicht an, als ich langsam über die Straße zurück zu Günys gehe. Vor dem Fenster steht eine einsame Bank. Sie ist zugeschneit, doch das stört mich nicht. Michael setzt sich ebenfalls, den Herzstein immer noch fest in der linken Hand.
»Damals in St. Peter Ording«, versucht er erneut ein Gespräch, »hast du gesagt: Ich kann bald nicht mehr. Erinnerst du dich?«
Natürlich erinnere ich mich. Aber was verstehst du schon von Annekatrin? Ich kann ohne sie nicht leben. Und sie kann ohne diese Gruppe nicht leben. Dort findet sie endlich den Halt, den sie so lange gesucht hat. Dort findet sie Antworten auf ihre Fragen.
»Stefan, sei ehrlich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Sekte dahintersteckt. Annekatrin hat dich da mit reingezogen. Aber welche Rolle spielt diese Dr. Young? Ist sie es, die euch die Seele geraubt hat?«
Eine Sekte. Ja, wenn du es so nennen willst. Aber es ist besser, wenn du darüber nichts Genaueres erfährst, Michael. Besser für dich.
Inzwischen ist es fast dunkel geworden. Das Licht aus den Schaufenstern lässt den frostigen Boden glitzern. Meine Blicke folgen einem Mann, der auf der anderen Straßenseite mit einem Kaffeebecher aus der Bäckerei tritt. Seine rotschwarze Irokesenfrisur färbt sich schnell weiß bei diesem Wetter. Wann habe ich das letzte Mal so einen Punkschnitt gesehen?
»Starr nicht in die Gegend, verdammt noch mal. Sag endlich was!«
Von einem grauen Müllsack, der am nächsten Halteverbotsschild lehnt, erhebt sich krächzend ein Rabe, als auch ich wieder aufstehe und mir die Flocken von der Hose klopfe. Du wirst nicht hören wollen, was ich jetzt zu sagen habe.
»Akzeptiere einfach, dass es den Stefan von damals nicht mehr gibt, Michael. Lass mich meinen Weg gehen, wohin auch immer er führen mag. Ich kann hier nicht mehr raus. Vielleicht liegst du sogar richtig mit deiner Vermutung, was die Sekte betrifft. Aber du solltest das trotzdem vergessen. Bevor es zu spät ist.«
An einem mit Graffiti besprühten Gemüselaster vorbei gehe ich in Richtung Neuer Pferdemarkt. Wenn er von Dr. Young weiß, brauche ich keine Ablenkungsmanöver mehr. Ich kehre ihm den Rücken zu. Schluss. Aus. Ende. Keine weiteren Fragen mehr.
Ich höre, wie Michael aufsteht und offenbar den Herzstein gegen das Verkehrsschild schleudert. Ich höre seine Schritte im Schnee, dann auf den Pflastersteinen der Straße. Er geht zu seinem Wagen. Gut so.
Im selben Augenblick heult ein Motor auf. Der Aufprall klingt dumpf im dichten Schneetreiben. Reifen quietschen. Schreie. Wieder der aufheulende Motor. Eine ferne Stimme ruft etwas von Fahrerflucht.
Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, was passiert ist. Warum hast du nicht auf meine Warnungen gehört, Michael? An einem Baum auf der anderen Straßenseite lehnt Annekatrin.
2. PREIS
Jürgen Rath
Paternoster, du im Himmel …
Rainer Pauli stand im fünften Obergeschoss des Kontorhauses und konzentrierte sich auf den richtigen Augenblick. Jetzt! Er machte einen entschlossenen Schritt nach vorne und sprang in das rumpelnde Gefährt. Als er sich umdrehte, hatte er den dicken, blauen Teppich der Geschäftsleitungsetage auf Augenhöhe. Der Gedanke an schwere, dunkelblaue Stoffe mit goldenen, eingestickten Lilien drängte sich ihm auf, die königlichen Farben. Doch hier war alles anders als königlich, seit ein Investor die alteingesessene Betha-Radlager GmbH übernommen hatte. Wenn er, der Personalreferent Rainer Pauli, im fünften Obergeschoss über den dicken Teppich zum Paternoster schlich, so wie gerade eben, drückte eine Zentnerlast auf seinen schmalen Schultern. Dann musste er erneut die Guillotine schärfen, wie manche Kollegen hinter seinem Rücken spotteten, dann musste er schon wieder Mitarbeiter entlassen.
Pauli starrte auf die Wand, die an ihm vorbeiglitt, dann blickte er in das vierte Obergeschoss. Hier gab es keine blauen Teppiche mehr, hier herrschte karges Linoleum. Das war der Flur der Marketingabteilung, nicht sein Bereich. Für diese Leute war der Kollege Schmidtchen zuständig. Doch auch hier sollte verschlankt werden. Verschlankt! Welch ein gemeiner Begriff für eine Massenentlassung, und dann noch kurz vor Weihnachten. Pauli griff sich unters Jackett und verzog das Gesicht. Wieder diese Magenschmerzen, wie schon seit Wochen. Genau genommen seit dieser neue Geschäftsführer aufgetaucht war und die Firma, dieses angesehene hanseatische Haus, mit eiserner Faust modernisierte. Auf der Betriebsversammlung hatte Wim van Zijstra erklärt, dass er den alten Laden entrümpeln, wohl auch Mitarbeiter entlassen werde. »Hier laufen viel zu viele Leute herum«, hatte er mit seiner lauten, kehligen Stimme verkündet, »die gleiche Arbeit machen wir in den Niederlanden mit der Hälfte an Personal. Und sind wir deshalb weniger erfolgreich? Nein, ganz im Gegenteil!« Mit einem Leuchten in den Augen hatte er die Hand zum Victory-Zeichen ausgestreckt und »Oranje boven!« gerufen.
Drittes Obergeschoss: Buchhaltungsabteilung. Sein Bereich, den er zu betreuen hatte. Es waberte ein Duft von Glühwein und Zimtsternen durch den Flur, wie jedes Jahr am letzten Freitag vor Weihnachten. Doch diesmal dürfte es eine traurige Weihnachtsfeier werden. Acht Mitarbeiter entlassen, alle bereits mit einem Abfindungsvertrag aus der Firma gedrängt. Pauli schnupperte an seiner Strickjacke. Noch immer haftete der Geruch der Gespräche an ihm, er wurde ihn einfach nicht los. Nach Schweiß roch es in seinem Büro, genauer gesagt: nach Angstschweiß. Ausgedünstet von Mitarbeitern, die um ihren Arbeitsplatz kämpften. Und auch verströmt von jenen, die mit gesenktem Kopf ihre »Freisetzung« als Urteil einer höheren Gewalt hinnahmen. Freisetzung! Schon wieder so ein Verschleierungsbegriff.
Der Paternoster rumpelte weiter, die Kabinen bewegten sich in einer endlosen Kette. Auf der rechten Seite nach oben, auf der linken Seite nach unten. Dieses Rumpeln hatte Pauli während seiner gesamten Zeit in dieser Firma begleitet. Es störte ihn nicht. Es erschien ihm eher als ein Sinnbild des Stromes an Arbeit, der all die Jahre an ihm vorbeigezogen war. Eine Arbeit, die er mochte. Bisher jedenfalls. Als Personalreferent hatte er Mitarbeiter eingestellt, sie auf ihrem Weg in der Firma begleitet, ihr Ausscheiden als Rentner abschließend dokumentiert. Mit manchen hatte er Sorgen und Nöte geteilt. Öfters mit Frauen als mit männlichen Kollegen. Mitarbeiterinnen