Kai Riedemann

Advent, Advent, die Alster brennt


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habe ich das noch nie gesehen. Mir haben die verkleideten Männer am Heiligen Abend immer leidgetan, aber im Vergleich zu einem einsamen Weihnachtsabend zu Hause ist es vielleicht gar nicht schlecht, im roten Mantel durch die Stadt zu ziehen. Ich sage nichts, aber Stefan sieht mich aufmerksam von der Seite an.

      »Warum kommst du nicht mit?«

      »Ich?«, frage ich erschrocken zurück.

      »Ja, warum nicht? Als Weihnachtsengel. Wenn du möchtest.«

      Stefans Stimme ist ausdruckslos, und er sieht mich nicht direkt an. Ich weiß nicht, ob er sich über mich lustig macht oder es ernst meint, aber ich bin in der Stimmung, das Spiel auf die Spitze zu treiben. »Na dann, gerne«, sage ich. »Was ist mit dem Kostüm?«

      »Das wird gestellt.«

      »Oh, gut. Ich schätze, gut bezahlt wird es nicht?«, frage ich.

      »Nein«, antwortet Stefan, neigt dann aber ein wenig den Kopf. »Naja«, sagt er. »Wie man es nimmt.«

      Der Nieselregen flimmert in den Lichtkreisen der Straßenlaternen, die längst angesprungen sind. Fast wünschte ich, es wäre schon später und richtig dunkel. Es erinnert mich daran, wie mein Vater mich immer getröstet hat, wenn es am Weihnachtsmorgen Tauwetter gab oder es von vornherein viel zu warm war für Schnee. »Heute Abend ist es sowieso dunkel, und wenn überall Lichter sind, ist es egal, wenn kein Schnee liegt.« Er hatte jedes Jahr wieder recht.

      In Harvestehude sind viele Fenster erleuchtet, und hier und dort glänzt eine Lichterkette in einem Balkonkasten, aber der Himmel ist noch von einem stumpfen Blaugrau erfüllt. Auf dem Gehweg liegt am Rand noch Laub, im Regen zu einem braunen Matsch zertreten.

      Ich habe ein langes, hellblaues Kleid angezogen, darüber einen schneeweißen Wollpullover, warm genug für einen verregneten Heiligen Abend. Mein Kostüm besteht aus einem weiten weißen Umhang mit langen Schlitzen für die Pappflügel, die ich mit breiten Stoffträgern wie einen Rucksack auf dem Rücken trage. Brünette Engel müssen ein wenig mehr Mühe auf ihre Frisur verwenden als blonde, meine Haare sind geflochten und hochgesteckt.

      Stefan dagegen sieht ganz verändert aus und wirklich wie der Weihnachtsmann, ohne dass ich genau sagen könnte, woran es liegt. Natürlich trägt er einen weißen Bart, aber er lässt eigentlich ziemlich viel von seinem Gesicht sehen. An ihm sieht die Mütze gar nicht albern aus, und sein langer roter Mantel ist fast etwas zu dunkelrot. Den großen Jutesack trägt er lässig über der Schulter.

      »Und?«, frage ich. »Wo wohnen unsere ersten artigen Kinder?«

      Im Treppenhaus des Altbaus ist es ziemlich dunkel, die Treppe ist steil, aber Stefan hat mich zurückgehalten, als ich nach dem Lichtschalter gesucht habe. »Nie das Licht anmachen«, raunt er. »Die Wohnungen sind dunkel am Weihnachtsabend, Licht aus dem Flur stört.«

      Vor uns öffnet sich die weiß gestrichene Tür mit dem Buntglaseinsatz.

      »Wer da wohl ist?«, höre ich eine Stimme auf der anderen Seite. Eine schlanke Frau in dunkler Bluse und heller Hose steht im Türspalt.

      »Fröhliche Weihnachten«, sagt Stefan laut und seltsam feierlich.

      »Der Weihnachtsmann«, ruft die Frau gekünstelt über die Schulter zurück, und winkt uns mit einer kurzen, geübten Geste herein.

      Halb im Flur steht ein kleiner Junge, wunderschön angezogen, mit einem Hemd in Kindergröße und einer Fliege. Hinter ihm ist das Wohnzimmer golden erleuchtet, und an dem großen Weihnachtsbaum brennen kleine, warme Lichter.

      »Ich weiß, du warst brav«, sagt Stefan, als er ein paar Schritte vortritt, und ich kann sein Augenzwinkern sehen. »Hallo, Philipp.«

      Philipp sagt nichts, seine Augen sind riesig in seinem Gesicht.

      »Philipp hat ein Gedicht gelernt, lieber Weihnachtsmann«, lässt sich seine Mutter hören.

      »Das ist aber schön«, sage ich, und fange einen amüsierten Blick von Stefan auf.

      »Hast du denn auch Lust, es aufzusagen?«, fragt er, während er neben Philipp in die Hocke geht.

      Man sieht Philipp an, dass er jetzt gern irgendwo anders wäre. »D … denk nur, ich habe das Christkind gesehen«, setzt er an, aber dann stockt er auch schon und sieht hilflos auf.

      »Oh, das kenne ich«, sagt Stefan behutsam in die Stille hinein. »Es kam aus dem Walde …«, versucht er, Philipp zu helfen.

      »Es kam aus dem Walde …«, wiederholt Philipp mit schwankender Stimme und stockt dann wieder.

      Ich sehe Stefans auffordernden Blick, aber leider bin ich mir nicht sicher, wie es weitergeht. »… das Mützchen voll Schnee«, ist das, was mir einfällt, aber dann kommt es mir komisch vor, dass das Christkind ein Mützchen tragen soll. Der Moment, in dem ich Philipp noch hätte retten können, verstreicht, und der kleine Junge bricht in stumme Tränen aus.

      »Oh, Philipp«, höre ich hinter mir die Mutter zischen, und in diesem Moment ist es mir egal, was die Rolle des Weihnachtsengels am Heiligen Abend ist. Ich beuge mich zu Philipp hinunter. »Es macht überhaupt nichts, wenn man das Gedicht nicht kann«, sage ich entschieden. »Wollen wir vielleicht lieber ein Weihnachtslied singen?«

      »Alle zusammen«, sagt Stefan mit feierlicher Stimme, nun bin ich es, die sich ein Lachen verbeißen muss. Wir singen:

      »Alle Jahre wieder«, und auch Philipps Mutter singt mit. Zumindest bewegt sie die Lippen.

      »Fröhliche Weihnachten!«

      Unsere nächsten braven Kinder sind schon ein wenig zu alt für den Weihnachtsmann, aber sie feiern Weihnachten offenbar mit ihren Großeltern und sind mit der gebührenden Geduld dabei. Die Wohnung in dem alten Backsteinbau ist unglaublich dunkel, der Weihnachtsbaum ist sorgfältig geschmückt, aber viel zu klein für das große Wohnzimmer. Es riecht durchdringend nach irgendeinem Braten.

      Stefan marschiert fröhlich durch das Wohnzimmer. »Frohe Weihnachten!«

      Die beiden Mädchen sind im Teenageralter, ordentlich zurechtgemacht mit der Sorgfalt, die man an den Tag legt, wenn man als Teenager anfängt, sich zu schminken.

      »Frohe Weihnachten«, sagen sie höflich und bieten an, etwas zu singen. Als sie mit »Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen« geendet haben, zwinkert Stefan ihnen zu und fragt, ob sie auch »Last Christmas« können. Sie kichern, aber sie singen schön, und beide bekommen sorgfältig verpackte Geschenke.

      Der ganze Weihnachtsabend ist etwas beschwingter, als wir uns verabschieden.

      Auf der Straße ist es fast schon dunkel. Die Lichtkreise der Laternen zwischen den kahlen Ästen der Bäume sind groß und golden.

      »Wohin jetzt?«, frage ich Stefan eifrig, und er lächelt.

      »Die nächsten Familien sind alle in den Elbvororten, Nienstedten und so. Mein Auto steht hier um die Ecke.«

      Der alte, weiße Mittelklassewagen ist einige Straßen weiter ordentlich geparkt, aber unter dem Scheibenwischer klemmt trotzdem ein Strafzettel. Stefan nimmt ihn, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, faltet ihn achtlos und wirft ihn in die Mittelkonsole. Etwas sorgfältiger zieht er den Weihnachtsmannmantel aus und legt ihn auf den Rücksitz. Er trägt ganz normale Kleider darunter, eine schwarze Stoffhose und einen dunklen Pullover über einem hellgrauen Hemd. Ich komme mir seltsam neben ihm vor in meinem hellblauen Kleid, als ich den Umhang und die Flügel auf den Rücksitz lege und einsteige.

      Stefan lässt den Motor an und fährt los, das Autoradio erwacht zum Leben und spielt das Weihnachtsprogramm des Norddeutschen Rundfunks. Jenseits der Windschutzscheibe zieht das stille, weihnachtliche Hamburg vorüber. Wir fahren am Bahnhof Dammtor vorbei, und die Lichter an der Fassade und die großen Sterne in den Rundbogenfenstern, die ich sonst immer kitschig fand, erscheinen mir heute schön. Als wir den Bahnhof passiert haben, recke ich den Hals, um einen Blick auf das Panorama der Innenstadt rund um die Binnenalster zu erhaschen, die erleuchteten Fassaden der Kaufhäuser