tapfere Ritter
Die Reise
Die Kirchenglocken läuteten. Hell und klar tönten die einzelnen Schläge über die Häuser des Städtchens hinweg. Alexa kniff die Augen zusammen und blinzelte in die strahlend helle Sonne, die wie eine unheilvolle Verkünderin auf alles niederbrannte. Es würde auch heute wieder nicht regnen. Dieser Tag versprach wie die vielen Tage zuvor heiß und trocken zu werden. Kein einziges Wölkchen zeigte sich am azurblauen Himmel, und Alexa war höchst unzufrieden mit sich. Sie löste ihren Blick vom Himmel und schaute sich um. Er war nicht da. Sie überlegte, ob er sie vergessen haben könnte und schüttelte unwillkürlich ihre rote Löwenmähne. Was für ein dummer Gedanke! Natürlich würde er sie nicht vergessen. Unruhig suchten ihre Augen den Marktplatz ab. Von hier oben konnte sie alles überblicken. Sie sah den Schuster mit dem Schlachter tuscheln. Was die wohl wieder ausheckten? Neidisch beobachtete sie, wie sich die Männer das kühle Bier becherweise hineinkippten. Sie sah die dicke Bäckersfrau wie einen mächtigen Felsen in der Menge stehen. An ihrem Unterarm hing ein schwerer Korb voll warmen Gebäcks. Es war viel zu heiß für die warmen Brötchen, doch sie schrie sich die Seele aus dem Leib, um ihre ofenfrische Ware feilzubieten. Die Hungrigen rissen ihr die sirupgefüllten Kuchenstücke aus der Hand und stopften sie sich in die gierigen Mäuler. Mit Bier wurde nachgespült.
Bier! Köstliches, wunderbar erfrischendes Bier!
Sie werden heute ein gutes Geschäft machen, die Bierbrauer, dachte Alexa. Denn der süße Kuchen blieb am Gaumen kleben, auch wenn man wie eine Kuh kaute. Sie verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Ereignisse dieser Art versprachen immer ein gutes Geschäft für die Marktschreier. Nicht nur die Bürger stürzten aus ihren Häusern oder stritten sich um die besten Fensterplätze, wenn es auf dem Marktplatz etwas zu sehen gab, sondern auch die Menschen vom Land nahmen den anstrengenden Weg nach Salzbrunne auf sich, um der täglichen Mühsal zu entfliehen und nichts vom Spektakel zu verpassen. Und sie hatten Hunger und Durst, die gegen bare Münze gestillt werden mussten.
Nun könnte er aber bald kommen, dachte Alexa, und ein Schweißtropfen rann ihr ins Auge. Es brannte höllisch und sie musste heftig blinzeln, ehe der Schmerz endlich nachließ. Ich sollte mich nicht so anstellen, dachte sie verstimmt, denn was ist schon ein Schweißtropfen im Vergleich zu dem, was noch kommen wird.
Stunden hatte sie nun schon in dieser erbarmungslosen Hitze zugebracht, hatte sich nicht von der Stelle rühren können, und immer noch geschah nichts. Wie lange wollten sie denn noch warten, ehe sie anfingen? Ungeduld kroch Alexa langsam wie eine Schnecke den Rücken hinauf. Ihr sollte es eigentlich recht sein. Solange er nicht da war, hatte sie es auch nicht eilig. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als hier weiter auszuharren.
Sie trat von einem Bein auf das andere, als plötzlich Bewegung in die Menge kam. Die schwere Kirchentür öffnete sich. Alexa kniff wieder die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Kirche war mehr als zweihundert Schritte von ihr entfernt, und sie wollte nichts von dem, was gleich geschehen würde, verpassen. Schwarz gekleidete Männer traten wie die Gänschen hintereinander marschierend in die grelle Mittagssonne und verharrten für einen kurzen Moment, auf der obersten Stufe der ausladenden Kirchentreppe, geblendet vom gleißenden Licht.
Alexa kicherte. Es schien ihr, als ob die Kirche diese hässlichen Gestalten wie eine schlechte Mahlzeit ausgespien hätte.
Sie spuckte aus.
In einer Prozession kamen die Männer, würdevoll und sich ihres hohen Amtes bewusst, Stufe für Stufe die Treppe herunter. Die Gaffer rückten respektvoll auseinander. Es entstand eine Gasse, durch die die Kirchenoberen zur Mitte des Platzes schritten, wortlos und mit feierlichen Mienen.
Alexa beobachtete sie argwöhnisch und rümpfte die Nase. Einer war wie der andere, einer war so boshaft wie der andere.
Sie spuckte erneut aus.
Die Kirchenglocken hatten aufgehört zu läuten, die Umstehenden schienen jetzt nur noch zu flüstern. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Alexa den Eindruck, dass alles erstarrte. Wie eingefroren wirkte auf einmal der Marktplatz mit seinen Besuchern, die sich eben noch wie gierige Ratten vor ihren Füßen getummelt hatten.
Sie wollte ein drittes Mal ausspucken, aber ihr Mund war staubtrocken. Sie hatte Durst. Quälenden Durst. Ein Krug Bier wäre jetzt genau richtig.
Bier!
Durst!
Erschöpft schloss sie die Augen. Lass ihm nichts dazwischen gekommen sein!, betete sie stumm. Lass ihn sein Versprechen halten!
Das plötzlich ausbrechende Grölen der Menge riss sie aus ihrer Schläfrigkeit. Sie öffnete die Augen und spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass einer der Schwarzmänner sie beobachtete. Sie suchte seine Augen und fand sie. Ein Ausdruck tiefster Befriedigung breitete sich auf seinem Totenschädelgesicht aus, verschwand aber gleich wieder, und Alexa sah nichts als ein leeres, ausdrucksloses Gesicht. Sie kannte ihn. Er übertraf alle anderen an Boshaftigkeit. Seine trockene Haut spannte sich wie gegerbtes Schweinsleder um die Schädelknochen, so dass sein Gesicht einer Teufelsmaske glich.
Böse, ging es ihr durch den Kopf, böse und hinterhältig.
Sie verzog keine Miene, als ihre Blicke sich erneut trafen. In seinem Gesicht rührte sich nichts. Seine kohleschwarzen Augen waren ausdruckslos auf sie gerichtet. Aber sie wusste, was er dachte. Ihr Blick löste sich von dem Totenschädelgesicht und suchte erneut den Platz ab. Nirgendwo konnte sie ihn in der Menge erblicken. Nichts verriet seine Anwesenheit. Er war immer noch nicht gekommen. Wo war er?
Alexa fing laut an zu fluchen, bis sie aus den Augenwinkeln Bewegung am Rande des überfüllten Marktplatzes wahrnahm.
Na endlich!
Sie suchte im Gewimmel den Totenschädel. Als sie ihn fand, verzog sich ihr Mund zu einem höhnischen Grinsen. – Du wirst nicht gewinnen! Nein, du nicht!, dachte sie. – Und ihr Blick wanderte zurück zur Quelle der Unruhe. Sie hatte sich ernste Sorgen gemacht, dass er ausblieb. Doch nun war er da. Wie hatte sie nur zweifeln können? Sie atmete erleichtert auf.
Aber wie groß war ihre Enttäuschung, als sie zwischen den Hauben und Schleiern, den Wämsern und ausladenden Umhängen nur den Hirtenjungen Strobel mit seinen zerzausten Haaren entdeckte, der sich mit einer Rotte Schweine seinen Weg durch die Menge bahnte. Mit einem Haselstöckchen trieb er eine dicke Muttersau und ihre quiekenden Ferkel vor sich her. Verkniffen blickte er sich um und drängelte sich an den Neugierigen vorbei.
Er war groß und schlank und überragte schon jetzt die anderen um einen halben Kopf, obwohl er noch keine sechzehn Jahre alt war. Man hatte ihm gesagt, er werde noch in den Himmel wachsen, wenn er weiter so viel Essen in sich hineinschaufeln würde, aber das kümmerte ihn nicht. Seine Größe war auch eher von untergeordneter Bedeutung, wenn man das weizenblonde Haar sah, das seinen Kopf wie ein struppiger Heiligenschein umgab.