Astrid Seehaus

Alexa und das Zauberbuch


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Haare lagen glatt am Kopf und endeten hinten in einem Pferdeschwanz. Sie wollte gerade auf den Mann zugehen, als sich der Höllenwächter wieder meldete.

      Er ergriff ihren Arm und versuchte sie unbeholfen zu trösten: „Na Kleine? Alles in Ordnung mit dir? Es ist nichts passiert. Nur ein kleiner Kurzschluss. Jetzt ist alles wieder unter Kontrolle. Du kannst nach Hause gehen.“ Er zog sie mit sich und schob sie durch einen anderen Ausgang. Dann machte es WUMM!, und die Tür war zu.

      Mit einem Mal war sie allein.

      Sie sah sich um. Niemand war zu sehen.

      Sie trat einen Schritt zurück und suchte nach einem Anhaltspunkt, nach einem Hinweis, durch den sie verstehen könnte, was gerade eben vorgegangen war. Doch sie sah nichts weiter, als dass riesige Buchstaben über der schwarzen Tür brannten. Rot wie die untergehende Sonne. Zögernd las sie die Worte Zur Hölle und kleiner darunter Nachtclub. Und dann erloschen die Buchstaben. Verdutzt wartete sie ab, was noch geschehen würde, aber es tat sich nichts.

      Das war doch nicht wahr, oder?

      Das konnte nicht sein!

      So aber nicht!

      Nicht mit ihr!

      „Lasst mich ein!“, polterte sie los. Mit nackten Füßen trat sie gegen die schwere Tür. „Ich will zu ihm! Hört doch! Meister! MEISTER DER FINSTERNIS! Gebt mir eine Audienz!“

      BUMM-BUMM!

      Mit Fäusten und Tritten traktierte sie die Eingangstür, die sich nicht einen Millimeter bewegte. BUMM-BUMM-BUMM! Der Zorn hatte sie gepackt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie war zornig über die Ignoranz, die sie gerade eben erfahren hatte. Zornig über die verpasste Gelegenheit, ihn, den Höllenfürsten, zu sehen. Zornig, da es kein Lob gegeben hatte für ihre Hexentalente, kein Lächeln, das ihr die Träume versüßt hätte, kein ... rein gar nichts eben. Sie ließ die Schultern hängen und wollte schon gehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie dem Höllenfürsten einen kleinen Denkzettel verpassen könnte. Nur einen ganz kleinen, so einen winzigen, über den man lacht ... der eher komisch als hinterhältig ... kaum der Rede wert ... als Beweis ihrer Hexenkunst.

      Ohne weiter nachzudenken hob sie ihre Hand, wies mit dem Zeigefinger auf die Tür und zischte die ersten Worte: „Schlangenschwanz und Krähenfuß, durch diese Tür du gehen musst ...“

      RINGRINGRINGRINGRINGRING.

      Alexa stutzte. Sie unterbrach ihre Beschwörung und drehte sich nach dem fremdartigen Geräusch um.

      RINGRINGRING.

      Vor ihren Augen raste ein riesengroßer, grüner Lindwurm – ein flügelloser Drachen – in eisernen Furchen den grauen Weg entlang und sauste an ihr vorbei.

      Himmel nochmal, was war denn das?

      Ihr Arm wurde steif. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Ächzend sank sie auf die kalten Treppenstufen vor der Hölle, dem Nachtclub, nieder und rieb sich die Augen. Dann starrte sie dem Funken sprühenden Ungeheuer nach. „Tod und Teufel! Tod und Teufel! Das war ein echter Drache! – Ein richtiger, echter Drache! – Das Biest hatte den Hunger von hundert Wölfen.“ Sie hatte sie ganz genau gesehen, diese vielen Menschen, eingesperrt in seinem lodernden Inneren. Fassungslos starrte sie auf die leeren Eisenfurchen. Er hatte sie verschluckt. Und da zappelten sie nun in seinem Drachenbauch und … und …

      Teufel nochmal! Kreideweiß im Gesicht und beklommen von dem, was sie gesehen hatte, war sie völlig bewegungsunfähig.

      „Oh Strobel! Wärst du jetzt hier bei mir! Wir könnten uns zusammen fürchten.“ Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine gaben nach, so dass sie sich noch einmal hinsetzte. Katzenjammer überfiel sie. „Die Hölle ist ein unwirtlicher Ort, Strobel. Mir gefällt es hier nicht. Ich will wieder nach Hause, zu meiner Eiche, nach Hause, wo ich wie eine Ente im Dorfweiher gründeln kann, wo es keine Drachen gibt und die Leute lieb und fleißig sind. Strobel, ach Strobel, könnte nicht alles wieder so sein wie vorher!“

      Sie schüttelte den Kopf in der Hoffnung, dass sie nur träumte. Aber dem war nicht so. Die Eisenfurchen waren immer noch da, so böse sie sie auch anstarrte. Und wenn sie da waren, dann hatte es auch den Drachen gegeben. Und wenn es den Drachen gegeben hatte, dann war das hier ein gefährlicher Ort … ein sehr gefährlicher Ort …

      Flüsternd stieß sie hervor: „Warum nur unterzieht mich Meister Schrawak einer solch harten Prüfung?“

      Alexa schaute sich um. Rundherum sah es öde aus. Grau und trist erhoben sich links und rechts und vor ihr riesige Steinkästen. Was waren denn das für komische Steinklötze mit den vielen schwarzen Löchern, als wenn jemand mit einem Stock ein Muster in weichen Lehm gebohrt hätte? Häuser, in denen Menschen lebten? Tja, so etwas konnte sich wohl nur der Teufel selbst ausdenken, dass seine ehrenwerten Höllengäste in grauen Steinen wohnen sollten. Gewiss, so übel konnte es auch wieder nicht sein, denn auf manchen Bergen sah es ebenso kalt und trostlos aus, und da fühlten sich einige Gewitterhexen ganz wohl.

      Ihr war es gleich. Nur ein einziger Gedanke bewegte sie noch: Wo sollte sie jetzt bleiben?

      Sie schaute zum frühmorgendlichen Himmel. Er schien einen schönen Tag zu verheißen, wenn sie es nicht besser wüsste. Denn in der Hölle, dem Ort der ewigen Finsternis, gab es keinen Tag, würde es niemals Tag werden. Hier würde man nie wieder die Sonne aufgehen sehen. Und das war für die junge Hexe eine sehr traurige Vorstellung.

       Ein neuer Tag

      Als Alexa aufwachte, hörte sie nur Blätterrauschen. Sie wähnte sich in Hasenwinkel, in dem Dorf am Weiher, das ihr mit seinen windschiefen, strohgedeckten Häuschen der liebste Ort von allen war.

      Genießerisch beugte und streckte sie sich und gähnte herzhaft. Trotz eines furchtbaren Traums, der sich wie ein Warzenalb auf sie gelegt hatte, war ihr Schlaf tief und fest gewesen. Sie hatte von einem Feuer und von Strobel geträumt, und der Hölle, in der sie sich plötzlich befand, und von kreischenden Menschen, die sie würgten und an ihr rissen. Als sie an das Gesöff dachte, bei dem sie fast Feuer gespuckt hätte, kicherte sie.

      Langsam arbeitete sie sich durch das Blätterdach und stellte fest, dass die Sonne schien. Die Strahlen kitzelten ihre Nase und ließen ihr Herz hüpfen. Sie glaubte sich auf ihrem Lieblingsbaum in Hasenwinkel. Als sie jedoch einen freien Blick durch eine Astgabel hatte, kam ihr die Umgebung doch äußerst befremdlich vor.

      Sie stutzte. Hatte sie letzte Nacht etwa doch nicht geträumt?

      Sie kniff die Augen zu und atmete tief ein und wieder aus. Das sollte helfen, wenn man dabei war, den Verstand zu verlieren. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen wieder. Erst das linke, dann das rechte. Aber alles sah noch genauso aus wie vorher. Es hatte sich nichts geändert. Der Weiher, ihr Lieblingsort, lag trist und kahl unter ihr. Kein Röhricht, das wie ein schützender Umhang seine Ufer säumte, in dem sich die Entenküken vor dem Fuchs verstecken konnten. Kein gelber Sumpfdotter oder rosa angehauchte Schwanenblumen, deren Blüten wie Schmetterlinge über dem Wasser schwebten. Alles fort. Die Wiese war kurz geschoren und sah völlig verbrannt aus, als ob eine Feuersbrunst darüber hinweggefegt wäre. Die vielen kleinen Trampelpfade, die sie stets mit Lust bewandert hatte, waren breiten, grauen Wegen gewichen und lockten nicht zu neugierigen Ausflügen. Sie lugte vorsichtig nach unten. Direkt unter ihr, auf einer Bank, sah Alexa jemanden sitzen und in einem Buch lesen. Es war ein Mädchen, vielleicht so alt wie sie. Sie schien alles um sich vergessen zu haben, so vertieft war sie in ihre Lektüre.

      Ob sie eine Hexenschwester war?

      Alexa schüttelte den Kopf. Das Mädchen sah nicht aus wie eine Hexe. Eher wie eine Tochter aus gutem Hause.

      Sie blinzelte in die Sonne. Es war früh am Morgen und versprach, wieder heiß zu werden. Sollte sie sich hier im Verborgenen halten und abwarten, was diese Fremde da unten tat, oder sich ihr vorstellen und hoffen, dass sie ihr erklären konnte, was mit ihrem Dorf passiert war?

      Das Mädchen könnte es möglicherweise wissen, denn es sah sehr gelehrt aus mit diesen