seinem trübgrünen Wasser, der vertrocknete Rasen, die Bäume und Büsche, deren Blätter sich eingerollt hatten, alles machte einen trostlosen Eindruck. Es gab nur eine Erklärung für die Verwüstung ihrer geliebten Heimat. Das mit der Hölle, das musste sie geträumt haben – sie befand sich ganz offensichtlich nicht am Ort ewiger Finsternis –, aber vom Lindwurm, diesem feigen Biest von Drache, von dem hatte sie nicht geträumt, den hatte sie wirklich gesehen. Und die Menschen, die in seinem feurigen Bauch gefangen waren, waren womöglich ihre Leute. Und ihr Dorf, das hatte er, der Lindwurm, dem Erdboden gleichgemacht.
Unfassbar! Absolut unfassbar!
In ihr sträubte sich alles, aber dann kam ihr eine Idee. Hatte Meister Schrawak sie womöglich nicht nur vor dem Scheiterhaufen gerettet, was lange genug gedauert hatte, sondern auch noch vor diesem Ungeheuer? Hatte er deswegen so lange gezögert, sie von einem Ort zum anderen zu hexen, weil er sie nicht in weitere Gefahr bringen wollte? Hätte er sie zu früh aus dem Kerker, in dem sie bis zur Urteilsvollstreckung hatte ausharren müssen, fort zu ihrem geliebten Weiher geschickt, dann wäre sie möglicherweise dem todbringenden Feuer des Drachens ausgeliefert worden. Sie lächelte. Ihr guter Meister Schrawak hat sie zwei Mal gerettet.
Das Mädchen auf der Holzbank bewegte sich und zog erneut Alexas Aufmerksamkeit auf sich. Jetzt war die Gelegenheit herauszufinden, ob ihr Dorf vernichtet worden war und wer es getan hatte. Nach einem kurzen Fingerschnippen saß sie auf der Rückenlehne der Bank und linste dem Mädchen neugierig über die Schulter. Sie hatte Alexa nicht bemerkt. Ihr kinnlanges Haar fiel nach vorne in ihr rundes Gesicht. Die großen Gläser, zusammengehalten von einem Drahtgestell, drohten von ihrer zierlichen Nase zu rutschen. Ihr Mund war breit und bewegte sich ständig. Nervös flüsterte sie einzelne Worte vor sich hin.
Alexa hörte ihr zu, verstand jedoch nichts von dem, was ihre Sitznachbarin murmelte. Sie betrachtete das geheimnisvolle Buch. Die Bilder faszinierten sie. Interessant sah das Städtchen auf dem Bild aus, wie ihre Stadt Salzbrunne. Sie wollte schon etwas Freundliches sagen, als die andere eine Seite umblätterte und Alexa erschrocken aufmerkte. Es war nur eine kleine, unscheinbare Zeichnung, die sie schockierte. Eine Zeichnung, die nicht von der Hand eines großen Künstlers stammte, sondern so einfach war, als ob ein Kind sie gekritzelt hätte. Aber das, was darauf zu sehen war, machte Alexa höllische Angst. Sie sah eine Frau, die an Händen und Füßen gefesselt in einem Fluss versank. Alexa wusste sofort, was das zu bedeuten hatte: Diese Zeichnung war das sichtbare Zeugnis einer Hexenprobe. Ohne lange nachzudenken, schnippte Alexa sich hinter den Baumriesen, auf dem sie geschlafen hatte. Der dicke Stamm verbarg sie vollständig.
Sie wartete.
Dann, zögerlich, beugte sie sich vorsichtig zur Seite und beobachtete misstrauisch diese fremde Gestalt auf der Bank. Genau in diesem Augenblick hielt das Mädchen mit Lesen inne und drehte sich um. Als sie niemanden hinter sich sah, schüttelte sie den Kopf und widmete sich wieder der Lektüre.
Alexas Gedanken schlugen Purzelbäume. Sollte dieses Mädchen da vor ihr wirklich – wirklich und wahrhaftig eine Hexenjägerin sein?
Sie stöhnte leise auf. Wenn sie das war, und zwei Mal fiele sie ganz bestimmt nicht auf die Hexenjäger herein, musste diese Person da gebannt werden, damit sie keine Gefahr mehr darstellte. Und zwar, bevor Schaden angerichtet werden konnte.
Sie streckte einen Arm aus und nuschelte: „Schlangenei und Rattenhirn, heb dich fort, du Jägerin.“
Die Hexenjägerin stand plötzlich auf und machte sich davon.
Alexa runzelte die Stirn. Das war nicht der Sinn ihres Zaubers. Dass die Hexenjägerin fort war, war schon ganz richtig, aber sie sollte sich in Luft auflösen. Nun sah Alexa sie zwar davonrennen wie ein zweibeiniger Hase, aber damit war ihr Problem nicht gelöst.
Nun, was blieb ihr anderes übrig: Sie schlich der Hexenjägerin nach. Da diese es sehr eilig hatte, musste sich Alexa ihren weit ausholenden Schritten anpassen. Und jedes Mal, wenn die andere sich umdrehte und prüfend zurückblickte, schnippte sie sich hinter einen Baum oder einen Busch, bis sie eine Stimme sie erstarren ließ.
„Hey!“ Verärgert musterte sie ein alter Mann, der unter mehreren Lagen Zeitungspapier geschlafen hatte. „Mach dich dünne!“
„Verzeih, guter Mann“, entschuldigte sich Alexa sofort und stieg von ihm herunter. „Ich habe dich nicht gesehen.“
„Hast wohl keine Augen im Kopp, was? Ich liege immer hier.“
„Ich hatte meinen Blick in die Ferne gerichtet“, antwortete Alexa pflichtschuldigst und suchte die Umgebung ab. Aber das Mädchen mit den Gläsern auf der Nase war fort.
„Dann pass das nächste Mal besser auf“, grunzte der Alte und schloss wieder die Augen.
Alexa ärgerte sich über ihre Unvorsichtigkeit. Sie hätte es besser wissen müssen. Überall lauerten die Gefahren. Nun war die Hexenjägerin verschwunden, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, sie zu bannen. Aber es war vordringlich, sie zu verhexen, sonst würde erneuter Schaden auf sie zukommen.
Hastig schaute sie sich um, aber nein … sie war wirklich weg.
DONG-DONG-DONG.
Das tief tönende Läuten einer Glocke lenkte sie ab. Gespannt lauschte sie dem rasselnden Brummen und den dumpfen Schlägen, die auf sie zukamen, konnte aber nicht herausfinden, um was es sich handelte. Nichts von dem klang nach Pferd oder Wagen, nach Blöken von Schafen oder Scharren von Hufen. Waren das Schwerthiebe? Möglicherweise ein Kampf? Oder waren das die Tatzen des Drachen, die sich in die Erde gruben? Sie bekam eine Gänsehaut. Ängstlich duckte sie sich hinter eine Hecke und hielt den Atem an.
Und diese Gerüche! Abscheuliche Gerüche, die sie noch nie zuvor gerochen hatte. Konnte es möglich sein, dass die Geschichte von dem Wilden Heer doch stimmte? Dass die Wilden Reiter umherzogen, um sich Menschen zu holen? Für ihren Kampf, dem man nicht entfliehen konnte?
Alexa warf sich auf den Boden. Jedes Kind in ihrem Dorf wusste, dass man sich hinwerfen musste, um dem Wilden Heer zu entgehen. Nach einer Weile wurde es ihr jedoch langweilig, toter Regenwurm zu spielen. Gebückt wie ein Hühnerdieb trippelte sie von Busch zu Busch, bis sich ein spitzer Finger zwischen ihre Schulterblätter bohrte. Sie drehte sich nach dem Finger um und sah sich unvermittelt, Nasenspitze an Nasenspitze, einem verschrumpelten Gesichtchen gegenüber, das ihr freundlich zulächelte.
„Mädchen, wenn du einem dringenden Bedürfnis nachgehen musst, dann findest du dort die Toiletten.“ Die Alte unterstrich ihre Worte, indem sie Alexa am Arm nahm, ihn in eine andere Richtung drehte und mit dem ausgestreckten Finger auf ein kleines, viereckiges Häuschen zeigte. „Aber hier kannst du nicht, auf gar keinen Fall, das gehört sich nicht, weißt du.“ Wasserhelle Augen blickten sie aufmerksam an, und Alexa nickte stumm.
Wieder hörte man die Glocke: DONG-DONG.
„Ich muss aber eigentlich dahin“, wollte Alexa erklären. Sie zeigte mit ihrem Finger Richtung Geläut, und die alte Frau verstand sofort.
„Aber ja, natürlich, du musst in die Schule. Dann beeil dich, Mädchen, du kommst sonst zu spät.“
Alexa nickte erleichtert. „Schule. Gewiss. Das ist mein Begehr.“ Und ehe die Alte etwas erwidern konnte, war Alexa bereits verschwunden.
Es war still geworden. Die Schulglocke hatte ihre Arbeit eingestellt. Alexa stand vor einem großen, grauen Haus und betrachtete es eingehend. Die Figuren über dem Portal erinnerten sie ein wenig an die Kirche in Salzbrunne, aber sonst gab es keine Ähnlichkeiten zwischen beiden Gebäuden. Wo war sie eigentlich? In ihrem Dorf hatte es nie solch ein Haus gegeben. So groß und so breit und so – mächtig. Sie setzte sich auf eine Bank unter einem Baum und entschied, gründlich nachzudenken, während sie auf die Hexenjägerin wartete. Mit dem Rückkehrzauber konnte sie sie dazu zwingen, sich ihr zu zeigen. Aber das würde eine gewisse Gefahr heraufbeschwören: Die Hexenjägerin könnte auf sie aufmerksam werden und sie bannen.
Alexa wiegte ihren Kopf hin und her und entschied, der drohenden Gefahr ins Auge zu blicken.
Leise schnurrte sie: „Wirbelsturm