Osteopathie mündlich überliefert
4.4. Kunsthandwerk statt Handwerk
4.6. Der Begriff ‚Philosophie‘ in Stills Texten
4.7. Der Begriff ‚Philosophie der Osteopathie‘ in Stills Texten
4.8. Philosophische Grundmotivation
5.1. Philosophie der Osteopathie
5.4. Philosophische Osteopathie
LITERATURVERZEICHNIS (AUSWAHL)
VORWORT
A.T. STILL UND SEINE TEXTE
Vor über hundert Jahren stellte der amerikanische Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) der Welt die Osteopathiei als Verbesserung bzw. Weiterentwicklung der damaligen orthodoxen Medizin vor. Hierzu verfasste er vier Bücher und einige Dutzend Artikel, in denen er uns seinen neuen Diagnose- und Behandlungsansatz darlegte. Für den unvorbereiteten Leser ein wenig überraschend verfasste er seine Gedanken dabei aber nicht in der damals gebräuchlichen oder heute üblichen Medizinersprache, sondern verwendete einen Stil, den man als Versuch der Verschriftlichung mündlicher Überlieferung bezeichnen könnte; jener Form der Kommunikation also, die zumindest in den ersten 60 Lebensjahren Stills in seinem Lebensumfeld vorrangig der Übermittlung von Informationen diente. So bestehen seine Texte überwiegend aus kraftvollen Erzählungen voller bunter Metaphern, vielschichtiger Allegorien, hemdsärmeliger Anekdoten, deftiger Polemik, häufig beliebig verknüpfter Gedanken, und dies alles oftmals noch aufgelockert durch eine gehörige Portion (Selbst-)Ironie. Dieser Schreibstil lässt es offensichtlich erscheinen, dass Still seine Gedanken nicht an die von ihm häufig harsch kritisierte gelehrte Welt adressierte. Vielmehr versuchte er seine zwar überwiegend ungebildeten, aber durchaus lebensintelligenten und von ihm hochgeschätzten Wegbegleiter im Grenzland des Mittleren Westens zu erreichen.
Auch wenn die Inhalte sich letztlich immer wieder um Osteopathie drehen, sucht man vor allem in seinen Büchern vergeblich nach methodisch sauber erarbeiteten Behandlungsprinzipien oder klar formulierten Behandlungsabläufen im Sinne eines medizinischen Sammelwerks. Auch die von ihm immer wieder in den Mittelpunkt gestellte manuelle Behandlung anatomischer Strukturen, um damit physiologische Prozesse im Körper zu beeinflussen, beschreibt er nirgends genauer, und er liefert hierzu auch keinerlei Bildmaterial. Tatsächlich taucht der Begriff Technik im Behandlungskontext in seinen vier Büchern nur einmal auf, wohingegen man Ausdrücken, die im allgemeinphilosophischen Kontext stehen, nicht nur im Titel zweier seiner vier Bücher, sondern an weit über 600 Textstellen begegnet.
Aufgrund dieser sprachlichen Phänomene und ohne das Hintergrundwissen, für welche Zielgruppe die Texte ursprünglich gedacht waren, drängt sich beim erwartungsvollen und vor allem gelehrten Leser, der relevante medizinische Literatur gewohnheitsmäßig nach ihrer unmittelbar praktischer Effizienz bewertet, unwillkürlich der Eindruck auf, bei Still könne es sich um keinen ernstzunehmenden Mediziner handeln und seine Texte seien infolgedessen aus medizinischer Sicht irrelevant. Verstärkt wird dieser Eindruck noch, wenn man erfährt, dass Still niemals eine medizinische Hochschule besuchte und seine Ausbildung im sogenannten Apprenticeship-Verfahren erwarb, d. h. als Lehrling bei einem bereits zugelassenen praktizierenden Mediziner. Dass dieser im Falle Stills zugleich dessen Vater und hauptberuflich methodistischer Wanderprediger war, der sein ebenfalls laienärztliches Wirken lediglich als Ergänzung seiner seelsorgerischen Tätigkeit betrachtete, rundet die Vorstellung von Still als doch wohl eher hinterwäldlerischem Quacksalber ab. Bedenken wir zudem die enormen Fortschritte der Medizin in den letzten hundert Jahren, angefangen von der physikalischen Medizin bis hin zur modernen Kognitionsforschung, zweifelt man erheblich daran, ob die Beschäftigung mit Stills doch schon über hundert Jahre alten Schriften überhaupt Sinn ergeben kann.
So in etwa denken die meisten Therapeuten, wenn es um Still und seine Texte geht. Und die wenigen Interessierten, die eine Lektüre seiner Bücher begonnen haben, legen diese bereits nach kurzer Zeit enttäuscht wieder aus der Hand, da sie eben kaum für die Praxis unmittelbar umsetzbare Anleitungen und Einsichten enthalten. Dass Still in seinen Texten unmethodische Aussagen und allenfalls fragmentarische Andeutungen über erst im Gesamtkontext erschließbare therapeutische Aspekte vorbringt, verführt darüber hinaus dazu, ihm geheimes Heilwissen zwischen die Zeilen zu dichten.
Und wäre all dies nicht genug, könnte man gegen die ernsthafte Beschäftigung mit der Gründerliteratur der Osteopathie auch noch einwenden, dass ihr Studium allein schon angesichts des gegenwärtigen Erfolgs der Osteopathie überflüssig sei. Gute Behandlungsergebnisse, breite Anerkennung in der Bevölkerung, berufspolitisch zunehmende Aktivitäten auf nationaler und internationaler Ebene, Anerkennung durch die WHO als inzwischen drittgrößte komplementärmedizinische Bewegung der Welt – was will man mehr?
An dieser Stelle möchte ich einhaken und bei aller berechtigten Euphorie doch an einen berühmten Ausspruch aus Äsops Fabelsammlung erinnern: „Was du tust, tue klug und bedenke das Ende!“ii Warum mein Einwand berechtigt ist, zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte der Osteopathie: Gerade in der Gründerzeit der Osteopathie herrschte ein vergleichbarer Boom in den Vereinigten Staaten. Bereits früh büßte sie dort jedoch ihre eigenständige Identität vollends ein und, statt zu – wie von ihrem Entdecker eingefordert – einer bedeutenden Weiterentwicklung der Medizin zu werden, mutierte sie schon bald zu einem ihrer eher unbedeutenden Anhängsel. Bis heute fristet die Osteopathie im Land ihrer Entstehung dieses Dasein. Noch dramatischer verlief die Entwicklung der ursprünglich als Medizin im hausärztlichen Kontext angedachten Osteopathie in England, wo sie bereits rasch nach ihrer Etablierung auf eine hauptsächlich strukturell orientierte Behandlungsmethode für muskuloskelettale Beschwerden reduziert wurde. Analysiert man beide Entwicklungen aus historischer Sicht, gründen beide in einer Verschiebung der