Idee, dass der Status anatomischer Strukturen Einfluss auf die sich über die fließenden Körperflüssigkeiten entfaltenden physiologischen Prozesse im Körper ausüben und damit auch die Ausprägung von Krankheiten beeinflussen könnte. Ein bedeutender Forschungsbereich war bei allen dementsprechend das vegetative Nervensystem, v.a. jene Reflexbögen, die einen Einfluss auf die Gefäßversorgung des Körpers haben. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen wurde abgeleitet, dass man nahezu alle im hausärztlichen Kontext auftretenden Beschwerden primär mit manuellen Techniken behandeln solle, um so über den Behandlungsapparat indirekt in das physiologische Geschehen des Organismus einzugreifen. Dadurch würden Beschwerden gelindert werden. Wie bereits beschrieben, liegt dem Begriff Osteopathie dieser Zusammenhang zugrunde.
Beim Blick in die Geschichte der Osteopathie muss aber kritisch festgestellt werden, dass dieser tatsächlich originäre Ansatz im Grunde nur in den ersten Jahren nach der Gründung von Stills American School of Osteopathy und in gebührender Konsequenz auch lediglich von Still selbst und möglicherweise auch von einigen seiner ersten Schüler praktiziert wurde. In der allgemeinmedizinischen Praxis verwenden in der Osteopathie ausgebildeten Ärzte bei der Behandlung hausärztlich relevanter Akuterkrankungen heutzutage aber nur noch äußerst selten manuelle Techniken. Wenn überhaupt, erfolgt dies ergänzend zu primär eingesetzten orthodoxen oder anderen komplementären oder alternativen Verfahren. Auch im nichtärztlichen Kontext sucht man vergeblich nach der oben beschriebenen therapeutischen Vorgehensweise. Hier beschränkt sich die primär manuelle osteopathische Behandlung von Patienten im Wesentlichen auf muskuloskelettale oder psychosomatische Beschwerden. Dies aber entspricht nicht der weit umfassenderen Ausrichtung der ursprünglichen Osteopathie, die sich eben auf nahezu alle hausärztlich relevanten Beschwerdebilder bezog.
Es ist also festzustellen, dass der tatsächlich originäre Ansatz von Still nicht mehr konsequent praktiziert wird und somit als mögliches Alleinstellungsmerkmal ebenfalls hinfällig ist.1
GANZHEITLICHKEIT
Weiterhin wird der ganzheitliche Ansatz schon seit Stills Zeiten als wesentliches Merkmal der Osteopathie herausgestellt. Man betont, dass der ganze Mensch und nicht die Krankheit behandelt werde. Der Blick in die Medizingeschichte zeigt aber schnell, dass der Mensch bereits in der antiken Medizin der Griechen als Kombination von Physischem und Metaphysischem betrachtet wurde. Dort tauchen bereits die Begriffe Psyche (Atem, Hauch) zur Beschreibung von Charakteristika eines Menschen – wie Emotion, Gemüt und mentalen Fähigkeiten – sowie Soma (Leib) zur Beschreibung seiner körperlichen Ausprägungen und einem Verständnis für die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Ebenen auf. Ausgrabungen in Epidauros belegen, dass die Griechen bereits vor über 2000 Jahren so etwas wie einen ‚Kurbetrieb‘ kannten, in dem der Mensch als Ganzes behandelt wurde. Von körperlichen Behandlungen, Sportarenen und Badekuren bis hin zu Schlafsälen zur Traumdeutung wurde dort alles geboten.
In der Neuzeit findet sich vor allem das sogenannte Geistheilen, der Mesmerismus bzw. das Magnetisieren, aber auch die bedeutenden Arbeiten des amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842 - 1910), worin ganzheitliche Sichtweisen vertreten werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass vor allem die zuerst genannten Ansätze im Lebensumfeld Stills große Bedeutung hatten. So verwundert es nicht, wenn man erfährt, dass er sich selbst in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung als ‚Magnetiseur‘ bezeichnete. Auch die aus dem Magnetisieren erwachsene moderne Hypnose versteht sich hier bereits als durchaus ganzheitlich. Dass die damals vorwiegend klassisch-physikalischen Erklärungsmodelle inzwischen durch quantentheoretische ersetzt wurden, ändert nichts an der Tatsache, dass ganzheitliche Überlegungen in der Medizin schon vor Stills Zeiten einen bedeutenden Platz eingenommen hatten.
GESUNDHEITSORIENTIERUNG BZW. SALUTOGENESE
Einige Strömungen der Osteopathie behaupten, die Besonderheit der Osteopathie läge darin, dass man gesundheitsorientiert bzw. salutogenetisch am Patienten arbeite, und ich muss gestehen, dass ich selbst an der Propagierung dieses Arguments mitgewirkt habe. Im Kern dieser Vorstellung steht der Gedanke, dass die eigentliche Heilung durch inhärente Kräfte der Natur innerhalb des menschlichen Organismus erfolge und dass die osteopathischen Maßnahmen auf eine Aktivierung bzw. Unterstützung selbiger abzielten. Inzwischen ist mir aber klar geworden, dass auch dieses Konzept so alt ist wie die rationale Medizin in der westlichen Welt. Schon in der wohl bedeutendsten Medizinschrift der Antike, dem Corpus Hippocraticum, wird bereits vor rund 2500 Jahren die zentrale Beobachtung beschrieben, dass die Natur in ihrer Entsprechung des menschlichen Organismus in der Lage sei, sich selbst zu helfen. Als die Römer die griechische Medizin mit ihrer Humoralpathologie übernahmen, fassten sie dies treffend in dem Ausspruch „Der Arzt behandelt, die Natur heilt!“2 zusammen. Diese Fähigkeit der Natur, deren Entdeckung man in der Osteopathie Still zuweilen fälschlicherweise zuschreibt, wurde bereits in der Antike als Vis medicatrix naturae beschrieben.3
Auch wenn dieser gesundheitsorientierte Ansatz in der universitären Medizin nicht gelehrt und daher kaum praktiziert wird, ändert dies nichts an der Tatsache, dass er aus medizinhistorischer Sicht bereits vor über 2000 Jahren in Griechenland und später auch in Italien bereits eine Blütezeit erlebte. Hier kann die Osteopathie sich allerdings zugutehalten, in ihrem Gründervater Still einen ähnlich bedeutenden Wiederbeleber dieser Lehre zu besitzen wie Samuel Hahnemann (1755 - 1843), den Begründer der Homöopathie. Im Unterschied zu Hahnemann geht Still allerdings nicht davon aus, dass die dem Körper innewohnenden Heilkräfte eigens aktiviert werden müssten, sondern ist der Ansicht, dass sie stets in vollem Umfang bereitstünden. Diese im Gegensatz zur Homöopathie stets voll aktiven Kräfte könnten allerdings durch unnatürliche Veränderungen der anatomischen Rahmenbedingungen (Stills Läsionen) in ihrer Entfaltung behindert werden, was die Entstehung von Krankheiten erst ermögliche.
Jeder Ethnologe wird zudem anmerken, dass das Konzept einer sich im Sinne der Lebenserhaltung und -förderung selbst ordnenden Natur ebenfalls Bestandteil nicht nur zahlreicher schamanischer Ansätze ist, sondern sich auch in einigen klassischen Heilmethoden Asiens nachweisen lässt.
URSACHEN BEHANDELN, KEINE SYMPTOME
Immer wieder ist in der Außendarstellung der Osteopathie zu lesen, sie behandle im Gegensatz zur orthodoxen Medizin nicht nur Symptome, sondern die Ursachen. Trifft dies sicherlich in einigen Fällen zu, so ist eine derartige Pauschalaussage doch keinesfalls korrekt. Wie begründet Osteopathie bezogen auf ihre zuvor beschriebenen Grundüberlegungen beispielsweise die kausale Behandlung eines juvenilen Diabetes, einer Hashimoto-Thyreoiditis oder einer massiven Coxarthrose? Diese exemplarischen Beschwerden, die auf einen unwiederbringlichen Untergang von bestimmten Zellen zurückzuführen sind, können – jedenfalls nach dem heutigen, auch über die rein reduktionistische Medizin hinausreichenden Wissen – nicht kausal behandelt werden, auch nicht durch die Osteopathie.
Zudem muss bedacht werden, dass Still die Ursachen von Erkrankungen ausschließlich mit einer Beeinträchtigung des Fließens von Körperflüssigkeiten oder Nervenströmen identifizierte, wohingegen die moderne Medizin den Begriff der Ursache in einem anderen Kontext versteht. Hierbei können genetische, psychosoziale, histologische, toxikologische und viele weitere Bereiche miteinbezogen sein. Zwar geschieht dies in Ansätzen auch in bestimmten Strömungen der Osteopathie, von einer rational begründeten Kausal-Ausrichtung kann aber keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich hierbei zumeist um eher persönliche Erklärungsmodelle, die sich einer kritischen Überprüfung entziehen. Ein Begriff, der anders als im üblichen medizinischen Kontext gebraucht wird, kann aber nicht als Argument zur Abgrenzung von der Medizin gebraucht werden, da keine Vergleichbarkeit der Inhalte gegeben ist.
PROZESSORIENTIERTES BEHANDELN
Ein relativ neues Argument der Osteopathie für ihre Eigenständigkeit gegenüber der orthodoxen Medizin ist die Aussage, dass Letztere konzeptorientiert vorgehe, wohingegen die Osteopathie prozesshaft operiere.
Auch in diesem Zusammenhang muss betont werden, dass das prozessorientierte Vorgehen in der orthodoxen Medizin keinesfalls unbekannt, sondern im Gegenteil sogar in wichtigen Bereichen Grundlage des Vorgehens ist. Man denke hier nur an die Intensivmedizin oder die Anästhesie, wo zwar grundsätzlich mit Konzepten gearbeitet wird, diese