dennoch gut. Man hatte sozusagen noch einmal Glück im Unglück, denn die vierköpfige Familie konnte mit der „Hansa“ aus der ostpreußischen Heimat fliehen. Schon während der Überfahrt bekam die neunjährige Inge aus Gesprächen von Soldaten an Bord mit, dass die „Wilhelm Gustloff“, die an diesem Tag hoffnungslos überfüllt den Hafen von Gotenhafen verlassen hatte, durch den Beschuss mit drei sowjetischen Torpedos gesunken war. Mehr als 9.000 Menschen verloren bei der bislang größten Katastrophe der Seefahrt in der eiskalten Ostsee ihr Leben, nur 1.239 Menschen überlebten.226
Wie würde wohl die Antwort lauten, wenn man heute eine Umfrage hinsichtlich der größten Schiffskatastrophe aller Zeiten durchführen ließe? Wilhelm Gustloff? Wohl kaum, denn welcher Mensch der jüngeren Generation kennt die Geschichte dieses Schiffes überhaupt? Auch gibt es über diese menschliche Tragödie auf See keinen einnahmeträchtigen Blockbuster made in Hollywood. Darüber hinaus ist die Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ laut Expertenmeinung nicht als Kriegsverbrechen zu betrachten, sondern vielmehr ein legitimes Mittel in kriegerischen Zeiten gewesen. Die vielen Toten waren also nicht einmal ein sogenannter Kollateralschaden eines militärischen Aktes. Schließlich habe Deutschland Europa mit Krieg und mit Mord überzogen.227 Machen Sie die Probe aufs Exempel, indem Sie jüngeren Menschen die Frage nach der weltweit größten Katastrophe der Seefahrt stellen – Sie werden staunen! Die Antwort wird nahezu unisono „Titanic“ lauten. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Schließlich wurde der Untergang des Luxusliners „RMS Titanic“, bei dessen Jungfernfahrt über 1.500 Menschen ihr Leben verloren, bereits mehrfach verfilmt. An Bord des tatsächlich untergegangenen Fahrgastschiffes der Extraklasse waren übrigens neben vielen anderen wohlhabenden Menschen der Bergbaumagnat Benjamin Guggenheim, der New Yorker Kaufhausmitbesitzer Isidor Strauss und der Waldorf-Astoria-Hotelier John Jakob Astor. Gemeinsam war denen ihr großer Reichtum, doch es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit: Alle drei sollen gegen die Gründung einer amerikanischen Zentralbank in Form der Federal Reserve gewesen sein.228
Die bekannteste Version, eine Mixtur aus Fakten und Fiktion, ist die mit elf Oscars ausgezeichnete Hollywoodproduktion von 1997, die teurer war als die „Titanic“ selbst. 200 Millionen US-Dollar kostete das 194-Minuten-Produkt aus der Traumfabrik in Los Angeles, während der Bau des Schiffes in den Jahren 1910 bis 1912 1,5 Millionen Pfund ausmachte, was umgerechnet auf das Jahr 1997 150 Millionen US-Dollar bedeutet.229 Das US-Filmdrama mit dem schnuckeligen Leonardo DiCaprio als Hauptdarsteller ist aber auch so schön klischeehaft: Tochter aus wohlhabendem Haus brennt mit armem Schlucker auf Luxusliner durch und ohne eine Packung Taschentücher ist dieser Streifen in seiner ganzen Länge kaum durchzustehen. Durch diesen Film wurde DiCaprio über Nacht zum Star und gründete nur ein Jahr später seine Leonardo-DiCaprio-Stiftung. Im Jahr 2018 hieß es, dass man über diese Stiftung bislang 100 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen den Klimawandel gesammelt habe, die in zahlreiche Projekte fließen würden.230 Der Schwarm vieler Frauenherzen wurde durch ein vorausgegangenes Treffen mit Al Gore, dem früheren US-Vizepräsidenten, im Jahr 1998 zum Umweltaktivisten.231 DiCaprio leidet scheinbar an einem ganz tief sitzenden Kindheitstrauma. So musste er als Junge statt unter einem Poster seines Superheldens unter einem Kunstdruck von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ schlafen, auf dem die Menschheit aus dem Paradies vertrieben wird. Deshalb weiß er auch, worauf die Welt gerade zusteuert: „Mit Adam und Eva fängt es an, dann geht es weiter: Überbevölkerung, Gemetzel, am Ende ist der Himmel tiefschwarz, die Landschaft verwüstet.“232 Und obwohl er das so genau weiß, steht er immer wieder in der Kritik aufgrund seines Umweltengagements. Trotz des unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges benutzt er, der sich gerne mit sehr viel jüngeren Frauen umgibt und in Sachen Weltenretter unterwegs ist, seinen Privatjet wie andere ihr Auto oder Moped und reist auf einer Luxusjacht mit 24.000 PS durch die Weltgeschichte.233
Doch nun erst einmal wieder zurück ins Jahr 1945, in dem es nach der Überfahrt auf der eisigen Ostsee in eine ungewisse Zukunft ging. Eine, die mit vielen offenen Fragen, Hoffnungen und auch so manchen menschlichen Enttäuschungen versehen war.
Unter deutschen Dächern
In Kiel angekommen, wusste die Familie ohne männliches Familienoberhaupt nicht, wohin sie überhaupt gebracht werden und was sie erwarten würde. Sie wurde einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein zugewiesen. Dort kam sie bei einer alleinstehenden Dame in einer Villa in einem einzigen kleinen Zimmer von ca. 16 m2 Größe für ganze vier Jahre unter. Der Raum hatte zunächst nicht einmal eine Ofenheizung und das Dach eines kleinen Erkers war undicht, weswegen es stets kalt, klamm und feucht war. Die Hausbesitzerin zeigte sich keineswegs begeistert über die neuen Mitbewohner, auch wenn sie Deutsche wie sie selbst waren. Von einer Willkommenskultur konnte damals keine Rede sein und auch mit der Solidarität gegenüber Mitmenschen aus den Ostgebieten war es oft nicht weit her. So machte sich die Dame keinerlei Sorgen um die stark abgemagerten und von der Flucht gezeichneten Menschen. Mitleid, Empathie und Menschlichkeit waren wohl Fremdwörter für sie. Dass einer der beiden Söhne der jungen Mutter aus Ostpreußen infolge der Flucht gesundheitlich schwer angeschlagen war und kaum noch ein Lebenszeichen von sich gab, rührte sie kaum. Bereits in Ostpreußen hatte Ella-Maries Großmutter nach der Geburt der kleinen Inge ihre zweitgeborene Tochter aufgrund einer Lungenentzündung verloren, weswegen sie um den Gesundheitszustand des älteren ihrer beiden Söhne in großer Angst war. Der Villenbesitzerin größte Sorge galt vielmehr ihrem schönsten Zimmer, in das später ein Ofensetzer sehr zum Leidwesen dieser Frau einen Kohleofen für die vierköpfige Flüchtlingsfamilie einbaute.
Zwei weitere Räume des Hauses wurden von einer ausgebombten Hamburgerin mit ihren drei Kindern bewohnt. Daneben lebten darin auch die Hauseigentümerin selbst, ein Lehrer mit Frau und Sohn sowie eine pensionierte alleinstehende Lehrerin. Das Zimmer der Lehrerin war nur durch eine Schiebetür von dem der Familie mit den ostpreußischen Wurzeln getrennt. Privatsphäre war Fehlanzeige und Inge und ihre beiden Brüder mussten immer sehr leise sein. Dies insbesondere dann, wenn die Lehrerin privaten Nachhilfeunterricht erteilte. Es gab nur eine Toilette für alle gemeinsam, also nicht nach Geschlechtern getrennt. Das stille Örtchen befand sich jedoch nicht im Haus, sondern in Form eines Plumpsklos in einem Schuppen im Garten. Wer jetzt erwartet, dass es zumindest fließend Wasser in der Villa gegeben habe, der wird enttäuscht: Zum Waschen, Kochen und Baden wurde kostbares Nass mittels einer Schwengelpumpe aus dem Brunnen im Vorgarten befördert. Gewaschen, gekocht, gegessen, geschlafen, Hausaufgaben gemacht, gespielt usw. wurde nur in diesem einen Zimmer. Wie schon gesagt: Mit vier Personen vier Jahre lang. Wer mag sich heute ein Leben unter solchen Umständen vorstellen? Wohl keiner. Doch damit nicht genug. Das beengte Wohnen für Menschen, die man kurzerhand per Zwangseinweisung anderen Menschen, die über unzerstörten Wohnraum verfügten, zuwies, war nur eines der vielen Probleme damals.
Frieden in Armut
Es fehlte an allem: an Nahrungsmitteln, Kleidung, Schuhen, Spielsachen, Hygieneartikeln, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ella-Maries Onkel, damals ein kleiner Lorbas des Jahrgangs 1939, eben jener, der kaum noch ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, war für sein Alter handwerklich äußerst geschickt. So fertigte er beispielsweise aus alten Fahrradmänteln Sandalen für den Sommer. Damit konnte man zumindest die warme Jahreszeit per pedes einigermaßen überstehen und musste nicht barfuß unterwegs sein. Da die inzwischen elfjährige Inge jedoch im Winter 1946/47 noch immer keine festen Schuhe besaß, ging ihre Mutter zum Pastor, um diesen um ein Paar zu bitten. Dieser Auftritt als Bittstellerin bei dem Kirchenmann um Schuhwerk für ihr Töchterchen war ihr äußerst unangenehm. Wer ist schließlich schon gerne auf Almosen angewiesen? Das Ergebnis konnte sich laut Ella-Maries Mutter jedoch sehen lassen: Es gab ein Paar knöchelhohe Herrenschuhe für sie, die es selbst später nur auf Schuhgröße 37 brachte, also sprichwörtlich nur auf kleinem Fuß lebte. So konnte das Kind wenigstens zur Schule gehen, auch wenn die Schuhe des Kirchenmannes natürlich viel zu groß waren und der Schulweg bei Eis und Schnee mit diesen nicht gerade leicht zu bewältigen war.
Für Eitelkeiten und irgendwelche Das-zieh-ich-aber-nicht-an-Diskussionen war kein Platz. Es herrschte vielerorts und hinsichtlich vieler Dinge ein nüchterner Pragmatismus. Von ihrer Mutter erfuhr Ella-Marie