es durchaus wahr ist, dass jede radikale Eugenikpolitik für viele Jahre politisch und psychologisch unmöglich sein wird, wird es für die UNESCO wichtig sein zu begreifen, dass das Eugenikproblem mit der größten Sorgfalt untersucht und die Öffentlichkeit über die hier auf dem Spiel stehenden Themen informiert wird, damit vieles, was heute undenkbar ist, wenigstens denkbar werden könnte“ 223
Zwischen gestern und heute
Hamburger Nachkriegsjunge
Kennen Sie Ella-Marie Arndt? Nein? Sagt Ihnen der Name nichts? Das ist nicht weiter schlimm. Man kann schließlich nicht jeden der 7,7 Milliarden Menschen auf dem Erdball kennen. Googelt man diesen Namen, liefert auch die Internetsuchmaschine kein Ergebnis. Dies verwundert nicht, denn Ella-Marie ist eine von vielen. Dafür, dass sie XX-Chromosomen in sämtlichen Körperzellen wie auch in ihren weißen Hautzellen trägt, kann sich nichts. Ebenso kann sie nichts dafür, dass sie in Deutschland geboren wurde und sie deutsche Eltern, Groß- und Urgroßeltern hatte bzw. noch einen lebenden Elternteil hat. Ella-Marie ist einfach nur ein Mensch wie jeder andere. Ihr ganzes Leben hat sie ohne größere Probleme gemeistert, doch je älter sie wird, desto mehr Fragezeichen tun sich bei ihr im Zusammenhang mit der Vergangenheit wie hinsichtlich der Zukunft auf. Wer aber ist diese Ella-Marie?
Ella-Marie Arndt wurde als Kind der geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, also zu einer Zeit, als man in Deutschland noch gerne Kinder bekam. Sie gehört damit der Generation der Kriegsenkel an. Ein Kriegsenkel, was ist das denn? Dies mögen sich insbesondere jüngere Menschen fragen. Sieht man bei Wikipedia unter dem Begriff „Kriegsenkel“ nach, so liest man dort Folgendes: „Kriegsenkel sind Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff entstammt der populärwissenschaftlichen Literatur und beschreibt Personen, die durch während der NS-Kriegszeit von ihren Eltern erlittene, unverarbeitete psychische Traumata indirekt traumatisiert worden sind.“ Dass der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen eine ganze Generation, aber auch die Nachkriegsgeneration und die der Kriegsenkel geprägt und traumatisiert hat, ist heute wohl unbestritten. Allein die Epigenetik liefert hierzu interessante Erkenntnisse.224 Nicht umsonst füllen Buchtitel wie „Kriegsenkel“, „Nebelkinder“, „Das Erbe der Kriegsenkel“, „Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie“, um nur einige zu nennen, die Regale von Buchhandlungen. Dabei sind die traumatischen Kriegserlebnisse sicherlich individuell völlig verschieden und ganz unterschiedlicher Ausprägung gewesen, wobei der Einfluss von Medien und Schule auf diese Menschen nicht unterschätzt werden sollte.
Ella-Maries Vater Gerd erblickte 1936, also drei Jahre nach Machtergreifung Adolf Hitlers als Hamburger Jung das Licht der Welt. Geboren wurde er im Kinderkrankenhaus in der Marckmannstraße im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Nur vier Jahre nach seiner Geburt begann in dieser medizinischen Einrichtung die Ermordung sogenannter unerwünschter Elemente. Hier wurde Säuglingen und Kleinkindern ein tödlicher Medikamentencocktail von Ärztinnen und Schwestern gespritzt, die juristisch weitgehend unbehelligt blieben und weiterhin ihren Beruf ausüben konnten.225 Als Gerds Vater noch lebte, hatte die fünfköpfige Familie in diesem Stadtteil zwischen Norderelbe und Bille gewohnt, einem zentrumsnahen Arbeiterviertel der Hansestadt, das jedoch durch die „Operation Gomorrha“ im Sommer 1943 bei über 30 °C Außentemperatur von US-Amerikanern und Briten völlig zerbombt wurde. Am Ende dieses Feuersturms mit sechs Großangriffen auf die Elbmetropole waren ca. 34.000 Menschen tot, 900.000 obdachlos und fast eine Million auf der Flucht. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht und lag in Schutt und Asche.
Nach dem Tod seines Vaters, einem gelernten Buchdrucker, der bei einem Bombenangriff auf Königsberg ums Leben gekommen sein soll, wuchs Gerd zusammen mit seinen zwei jüngeren Geschwistern und einem später unehelich geborenen Halbbruder mit seiner Mutter in einem ländlichen Stadtteil am nördlichen Stadtrand Hamburgs auf. Seine Mutter hatte nur wenig Zeit für ihre Kinder, die sie fortan alleine durchbringen musste. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Ältesten. Gerd war bei Kriegsende gerade mal neun Jahre alt und musste schon viel Verantwortung für die Familie übernehmen. So wurde er eingespannt, bei Bauer Bunte auf dem Hof mitzuhelfen, und beim Vermieter wurde er u. a. zur Obsternte eingesetzt. Im Alter von elf Jahren wurde er dann abends zum Geldverdienen geschickt. Dies tat Gerd in einer Gaststätte mit Tanzlokal und Kegelbahn, wo er „Alle Neune“ wieder aufzustellen hatte. Heute würde dies wohl unter den Begriff „Kinderarbeit“ fallen, während es damals lediglich ein notwendiges Übel zum Überleben war. Dass ein elfjähriges Kerlchen ins Bett gehört, statt in einer verrauchten Gaststätte – damals gab es noch kein Rauchverbot in der Gastronomie und in öffentlichen Einrichtungen – zur nächtlichen Stunde Geld verdienen zu müssen, versteht sich von selbst. Jedoch war jeder Pfennig nötig, um das Überleben einer alleinerziehenden Mutter mit vier kleinen Kindern zu sichern. Für Mutterliebe und Kuscheleinheiten mit dem Nachwuchs blieb dabei nur wenig Zeit und Raum. Man befand sich schließlich, frei nach Darwin, im wahrsten Sinne im Kampf ums Überleben im völlig zerbombten Hamburg. Ella-Marie würde ihre Großmutter aus heutiger Sicht als eine eher kühle, oft distanziert und emotionslos wirkende Frau beschreiben, der gelegentlich auch mal die Hand ausrutschte, wie beispielsweise gegenüber ihrem zwei Jahre älteren Cousin Frank, der sich später das Leben nahm. Dabei hat sie sich mehr als einmal gefragt, ob ihre Großmutter schon immer so war oder ob der Krieg sie so hart werden ließ.
Durch die guten Kontakte der jungen Mutter zum Landwirt Bunte, bei dem sie auch arbeitete, war wenigstens dafür gesorgt, dass die Familie mit Obst, Gemüse, Eiern, Milch und dergleichen versorgt war und keinen Hunger leiden musste. Insbesondere für die Kinder fiel immer etwas ab. Und auch das Leben zur Miete in einem alten, reetgedeckten Haus einer bekannten Hamburger Unternehmer- und Mäzenatenfamilie in Flughafennähe erwies sich als hilfreich. Zum einen kamen sowohl Ella-Maries Großmutter als auch deren Kinder in den 1960er-Jahren über Wohnberechtigungsscheine in den Genuss von Neubauwohnungen über die Stiftung dieser wohlhabenden Familie. Zum anderen fand ihre Großmutter bei der Stiftung Arbeit als Putzfrau für die Generalreinigung von Wohnungen vor dem Erstbezug. Was aber blieb, war die Trauer von Ella-Maries Vater um seinen viel zu früh verstorbenen eigenen Vater und eine gestohlene Kindheit unter der Knute einer Mutter, die insbesondere ihrem Ältesten nur wenig Liebe und Nestwärme zu geben vermochte.
Ostpreußisches Flüchtlingsmädchen
Die Geschichte der Kindheit von Ella-Maries Mutter Inge, einem Marjellchen aus Ostpreußen, ist eine andere. Sie floh als Neunjährige im Januar 1945 bei eisiger Kälte zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Brüdern aus Ortelsburg in Masuren. Ziel war es, mit dem Schiff über die Ostsee den Hafen von Kiel in Schleswig-Holstein zu erreichen, dem Hauptanlaufgebiet von Flüchtlingen und Vertriebenen bei der Evakuierung von 2,5 Millionen Menschen aus dem Baltikum sowie Ost- und Westpreußen. Insgesamt verließen ab Ende 1944 ca. 14 Millionen Deutsche ihre Heimat in unzähligen Flüchtlingstrecks. Viele davon begaben sich mit Pferdefuhrwerken über das zugefrorene Frische Haff der Ostsee gen Westen, eine Entscheidung, die durch das Einbrechen im eiskalten Wasser oder durch den Beschuss von Tieffliegern für zahlreiche Menschen tödlich endete. Ursprünglich hatte Inges Mutter bis zum Schluss auf den Vater ihrer Kinder warten wollen, der als Zugschaffner bei der Reichsbahn arbeitete. Da die Rote Armee jedoch unaufhaltsam Richtung Westen rückte, packte die junge Mutter ihre drei Kinder, verließ das kleine schmucke Häuschen im idyllischen Masuren und floh mit dem Zug in der Holzklasse ohne Fensterscheiben in Richtung Königsberg. Auch sie wurden während der Fahrt durch Tiefflieger beschossen, weswegen der Zug immer wieder in Waldstücken zum Halten kam. Die Reise unter widrigen Umständen wollte einfach kein Ende nehmen. Endlich in Königsberg angekommen, verbrachte die Familie vier Tage in einem Bunker, um in einem Viehwaggon bei klirrender Kälte weiter in die Hafenstadt Pillau zu gelangen. Zuvor hatte Ella-Maries Oma in Königsberg einen Evakuierungsschein für vier Personen bekommen. Von Pillau aus „wollte“ man zusammen mit Tausenden anderer Frauen und Kinder, Verletzten, alten Leuten und Soldaten am 30. Januar 1945 mit der „Wilhelm Gustloff“, dem einstigen Luxus-Traumschiff der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ und zur Zeit seiner Erbauung größten Schiff der Welt, über die Ostsee die geliebte Heimat verlassen. In Pillau angekommen, lag der Luxusliner jedoch gar nicht vor Anker. Das Entsetzen