mit Temperaturen bis zu minus 20 °C zählte. Sogar die Binnenschifffahrt war aufgrund vereister Flüsse zum Erliegen gekommen und damit die Versorgung mit Lebensmitteln.234 Ob man wohl schon damals in Politik und Medien von einer Klimakatastrophe sprach? Wohl kaum, denn dem eisigen Winter folgte ein typischer Jahrhundertsommer anno 1947 mit z. B. 60 Sommertagen und einer Höchsttemperatur von mindestens 25 °C im Südwesten des Landes. Normal wären 31 Sommertage gewesen.235
Sich auf den Unterricht zu konzentrieren, fiel der kleinen Inge, die eine gute und wissbegierige Schülerin war, nicht immer leicht. Sie litt sehr an starker Unterernährung, weswegen sie gelegentlich einfach ohnmächtig wurde. Diese Ohnmacht überfiel sie auch während des Unterrichts, der von einer einzigen Lehrerin einer Klasse mit 45 Mädchen gegeben wurde. Aus heutiger Sicht ist auch dies kaum vorstellbar. Die Ohnmachtsanfälle waren jedoch wenig verwunderlich, denn an so manchem Tag lebte das Mädchen nur von einem einzigen Stückchen Steckrübe. Auch der Rest der Familie, den die Sorge um den Vater und Ehemann, von dem es noch immer kein Lebenszeichen gab, und das Heimweh nach der masurischen Heimat plagte, bekam nicht viel zu essen. So manche Mahlzeit ließ die junge Mutter zugunsten ihrer Kinder mit den Worten „Esst nur, ich habe bereits gegessen!“ ausfallen. Auf Bildern vor der Flucht, von denen es zum Glück noch ein paar gibt, sieht Ella-Maries Oma wie das blühende Leben aus. Auf Bildern, die nach 1945 aufgenommen wurden, ist sie hingegen eingefallen und vergrämt, ein Schatten ihrer selbst. In der großen Verzweiflung um das leibliche Wohl ihrer Kinder schlachtete sie deren Kaninchen, womit sie sich den Zorn ihres Nachwuchses zuzog. Schließlich hatte dieser schon die geliebte Katze in Ostpreußen zurücklassen müssen, und dann landete auch noch das nicht weniger ins Herz geschlossene Karnickel als Sonntagsbraten auf dem Tisch. Von wegen, der Hunger treibt´s rein: Die drei ausgehungerten Kinder aßen nur die trockenen Kartoffeln und rührten nicht einmal die Bratensoße an.
Inge und ihre beiden Brüder bekamen durch die schlechte Ernährung offene Stellen an den Beinen. Diese fingen oft an zu nässen und zu eitern, weswegen die Socken beim Ausziehen kleben blieben und die Wunden später hässliche Narben hinterließen. Zusammen mit ihren Kindern zog Ella-Maries Großmutter mit einem Bollerwagen über Land, um ihre Zigarettenmarken, die sie als Nichtraucherin nicht benötigte, bei den Bauern gegen etwas Essbares für ihre Kinder einzutauschen. Die Landwirte waren nur selten erfreut über derartige Hofbesuche von den Pollacken, wie die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten damals oft genannt wurden. Einmal kamen sie zu einem Bauern, der sogar seine Hunde auf die Pollackin und ihre Gören hetzen wollte, wenn diese mit ihren Kindern nicht sofort den Hof verließe. Ohne die Schulspeisung durch die Schweden, die ihre Neutralität im Zweiten Weltkrieg erklärt hatten, um nicht in diesen hineingezogen zu werden, hätten Ella-Maries Mutter und ihre beiden Onkel die Nachkriegszeit wohl gar nicht überlebt. Trotz des Verlustes der Heimat, der Ungewissheit über den Verbleib von Ehemann und Vater und der widrigen Umstände, unter denen man zu leben hatte, betete man und dankte Gott dafür, dass man ein Dach über dem Kopf hatte und wieder in Frieden leben durfte.
Was aber erleben wir heute in Deutschland zum Beispiel hinsichtlich der Ernährung? Auf der einen Seite stehen die Adipösen neben den Bulimikern mit ihrer häufigen Neigung zum Laxantien- und Brechmittelmissbrauch. Andererseits herrscht gerade in gut betuchten Familien oft ein regelrechter Glaubenskrieg um die Ernährung in Form von omnivorem, (ovo-lacto-)vegetarischem oder veganem Essen neben roher bzw. frutarischer Kost. Viele muslimische Mitbürger unterscheiden zwischen Haram- bzw. Halalernährung, während immer mehr arme Menschen in Deutschland im Jahr 2019 auf die Hilfe der gemeinnützigen Tafeln angewiesen sind. Dabei werden jedes Jahr schätzungsweise 18 Millionen Tonnen Lebensmittel deutschlandweit weggeworfen, derweil weltweit alle zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren stirbt, 800 Millionen Menschen auf dieser schönen Erde Hunger und ganze zwei Milliarden an Mangelernährung leiden.236, 237
Einer der weltweit größten Lebensmittelhersteller ist heute das Unternehmen Nestlé mit seinem Hauptsitz in der Schweiz. Zu dessen Produktpalette gehören mehr als 2.000 Marken, darunter beispielsweise Nesquik-Kakao, Nespresso-Kaffee – einst beworben vom US-Schau-spieler George Clooney –, Smarties, Vittel, Katzenfutter Felix, aber auch Kosmetik- und Parfummarken wie Garnier, Maybelline, Diesel und Yves Saint Laurent. Immer wieder gerät dieses Unternehmen in die Schlagzeilen, weil es zum Beispiel weltweit Wasserrechte von staatlichen Behörden kauft, so auch im Süden Afrikas, in Äthiopien und Pakistan. Dieses zuvor gereinigte Wasser wird dann zu recht stattlichen Preisen verkauft. Der Regenwald wird für Palmöl in Kitkat, Nutella & Co. abgeholzt. Täglich verschwindet die „grüne Lunge der Erde“, einer der artenreichsten Lebensräume überhaupt, in einer Größenordnung von 30 Fußballfeldern. Und auch die Babynahrung dieses Unternehmens ist nicht an einer gesunden Ernährung der Kleinsten der Kleinen interessiert, sondern vielmehr auf Profit und Wachstum ausgerichtet.238, 239 Dabei ist die wahre grüne Lunge der Erde nicht wirklich der Amazonas-Regenwald, sondern zum Beispiel die Taiga in Sibirien. Dort verlaufen Verrottungsprozesse aufgrund der klimatischen Bedingungen viel langsamer ab. Deshalb wird der für Zersetzungsprozesse benötigte Sauerstoff deutlich langsamer der Atmosphäre entzogen als in den Tropen, was zu einer positiven Sauerstoffbilanz führt.240
Um nicht auf weitere Almosen für sich und ihre heranwachsenden Kinder angewiesen zu sein – den menschlichen Stolz und die Würde der dreifachen Mutter konnte selbst ein verlorener Krieg nicht besiegen –, arbeitete Ella-Maries Großmutter in einer Wurstfabrik. Ihr Mann, der bei nächster Gelegenheit nach Westdeutschland nachkommen wollte, wo eine Halbschwester in Bochum lebte, galt zunächst als vermisst. Man hatte ihn damals über das Deutsche Rote Kreuz suchen lassen, jedoch ohne Ergebnis. Schweren Herzens ließ Ella-Maries Oma 1951 ihren Mann für tot erklären, um wenigstens für sich eine Kriegswitwenrente zu bekommen. Schließlich hatte ihr Gatte viele Jahre bei der Reichsbahn als Schaffner gearbeitet. Glücklicherweise hatte sie alle notwendigen Ausweispapiere und persönlichen Dokumente mit auf die Flucht aus der kalten Heimat, wie Masuren wegen der rauen Winter damals genannt wurde, gen Westen genommen. Diese Unterlagen existieren bis heute und befinden sich seit dem Tod von Ella-Maries Oma im Jahr 1978 im Besitz ihrer Mutter. Sowohl die Familie von Ella-Maries Vater als auch die ihrer Mutter – ihre Oma väterlicherseits hatte nur einen Bruder, während ihre Oma mütterlicherseits elf Geschwister hatte –, wurden durch den Krieg in ganz Deutschland versprengt und/oder durch die innerdeutsche Grenze voneinander getrennt bzw. nach Russland verschleppt.
Auch heute, über 74 Jahre nach Kriegsende, sind die Narben aus der Kindheit sowohl an den Beinen als auch auf der Seele der Mutter von Ella-Marie noch immer zu sehen bzw. zu spüren, auch wenn sie im Laufe des Lebens ein wenig verblasst sind. Ja ja, die Zeit heilt Wunden, dies zumindest oft aber nur oberflächlich. Flucht und Vertreibung vergisst derjenige, der sie erlebt hat, sein Leben lang nicht. Und so kommt heute aufgrund der weltweiten Situation das Thema Krieg zwischen Ella-Marie und ihrer alten Mutter verstärkt zur Sprache. Geholfen haben ihrer Mutter bei der Vergangenheitsbewältigung kein Psychologe und keine Traumatherapie. Sie, die es damals trotz guter Noten nur zum Volksschulabschluss gebracht hatte und keine Ausbildung machen konnte, da sie Geld verdienen musste, hat im hohen Alter angefangen, ihre Fluchterlebnisse aufzuschreiben. Aus diesen Aufzeichnungen hat sie an ihrem 80. Geburtstag im Oktober 2015 den Schülern eines Gymnasiums in Schleswig-Holstein vorgelesen.
So oder ähnlich wie den Familien von Ella-Maries Eltern ist es damals Millionen von Menschen in der Nachkriegszeit ergangen, die ausgebombt wurden, fliehen mussten oder zu den Vertriebenen bzw. Spätaussiedlern gehörten. Viele waren durch ihre Kriegserlebnisse schwer traumatisiert, doch es blieb nicht viel Zeit zum Trauern, denn es ging für die meisten ums nackte Überleben. Ebenso ging es um den Wiederaufbau eines kaputten und zerbombten Landes unter seiner früheren faschistischen Führung. Dies alles zu einer Zeit, als nicht jeder Haushalt im Besitz eines Fernsehers war, von einem Telefon oder gar einem Smartphone und dem damit verbundenen Informationsreichtum des Internets ganz zu schweigen. Hauptsächlich über Druckerzeugnisse und die Goebbelschnauze, also den Volksempfänger, der als eines der wichtigsten Instrumente der NS-Propagandamaschine dank Gleichschaltung und personeller Säuberung der Rundfunkanstalten galt, wurde das Volk mit den vermeintlich richtigen und wichtigen Informationen berieselt und indoktriniert. Wie aber ist es Ella-Marie, der hamburgisch-ostpreußischen Kriegsenkelin, vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer Eltern in ihrem eigenen Leben ergangen?