Ulrich W. Gaertner

Trilogie des Mordens


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ICE 1403, in der Ersten Klasse, Wagen 28, Abteil 8, lautete der Text der Meldung.

      Der frühlingskalte Nachtwind fegt von Westen über den Bahnsteig. Die Polizisten ziehen den Reißverschluss ihrer dunkelgrünen Einsatzjacken fast gleichzeitig hoch und blicken erwartungsvoll auf die Waggontür, die sich jetzt zischend öffnet. Dort erscheint der junge Zugführer in seiner dunkelblauen Dienstkleidung, darauf ein Namensschildchen.

      Groß, schlank, dynamisch wirkend; eine ansprechende Erscheinung, wie auf den Werbeplakaten der Deutschen Bundesbahn, denkt Polizeihauptmeister Falkenberg, der ältere der beiden Polizisten und betrachtet wehmütig seinen leichten Bauchansatz.

      Doch zu dem so souverän wirkenden Äußeren passt die Stimme des Mannes nicht. Blass und leicht krächzend wendet er sich an die drei Uniformierten, die auf dem Bahnsteig warten.

      „Anja, meine Zugbegleiterin, kam kurz hinter Hamburg in mein Dienstabteil. Sie war völlig durcheinander. „In Abteil 8, Erste Klasse, vor dem Servicewagen, liegt ein Toter!“ Als wir der den Fundort erreichten, sah ich durch die offene Tür einen Mann auf dem Boden liegen. Es stank abscheulich nach Erbrochenem. Der Mann rührte sich auch nicht, als ich ihn einige Male mit dem Fuß anstieß.“

      Aufgeregt unterbricht der Zugführer die lange Erklärung und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die beiden Polizisten blicken sich wortlos an.

      „Na, dann lassen Sie uns mal ran, Herr Kollege.“

      „Wird schon nicht so schlimm sein, oder haben Sie noch nie ’ne Leiche gesehen?“

      Der Zugführer fasst sich ein Herz:

      „Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht und der Mann lebt noch. Und außerdem müssen wir gleich weiterfahren.“

      Polizeihauptmeister Falkenberg blickt den Gesprächspartner irritiert an und schüttelt ablehnend den Kopf.

      „Ich glaube, da wird nichts draus, wenn Ihre Beobachtungen zutreffend sind“, dröhnt seine kräftige Stimme mit deutlich niederdeutschem Einschlag.

      „Nu geih mol voran, Jung, dormit wi in Gang komen deien.“

      Kommissar Brüning muss grinsen. Wenn es ernst wird, fällt der Kollege in seine plattdeutsche Mundart. Eilig steigen die drei Bundesbediensteten in den langen Abteilkorridor des kaum belegten Waggons. Eine Abteiltür wird geöffnet, und eine helle Frauenstimme fragt aufgeregt, was denn da los sei. Nach wenigen Schritten kommt den Männern schon der penetrante Geruch von Erbrochenem entgegen. Vor der offenen Tür des hellerleuchteten Abteils bleiben sie wie angewurzelt stehen.

      „Bleibt bitte mal zurück.“

      Polizeikommissar Brüning macht einige Schritte vorwärts, beugt sich über die auf dem Bauch liegende, zusammengekrümmte Gestalt. Vorsichtig dreht er den Mann auf die rechte Körperseite. Zielsicher ertastet er die Arterie an der linken Halsseite, verharrt eine Weile und schüttelt den Kopf.

      „Sie haben jetzt ein echtes Problem, Herr Kollege. Sie werden den Mitreisenden klarmachen müssen, dass dieser Zug in den nächsten Stunden nicht weiterfahren wird."

      Mit einem Ruck zieht Polizeikommissar Brüning die Abteiltür hinter sich zu.

      „Hier darf jetzt nichts verändert werden. Können Sie die Tür verschließen, Herr …, ah Berkemüller?“

      Er blickt den Zugführer erwartungsvoll an und greift nach seinem Notizbuch.

      „Höchste Zeit für ein paar Daten. Was war eigentlich das Reiseziel?“

      „Frankfurt/Main; Frankfurt Hauptbahnhof über Hannover, Göttingen, Fulda …

      Sein Kollege unterbricht die Aufzählung.

      „Halt, halt, das genügt. Ich werde schon mal den Notarzt verständigen.“

      „Und gleich die Kripo dazu. Mein Bauchgefühl sagt, das könnte ein Fall für die Mordkommission werden.

      „Die Mordkommission?“

      Die krächzende Stimme des Zugführers klingt erschrocken.

      „Auch das noch. Die hatten wir noch nie an Bord.“

      „Einmal ist immer das erste Mal.“ Das ist die knappe Entgegnung von Falkenberg, der mit raschen Schritten den üblen Gestank hinter sich lässt und mit einem tiefen Atemzug die kalte Nachtluft des Bahnsteiges einsaugt.

      Dort steht ungeduldig und frierend der Aufsichtsbeamte. Knapp zehn Minuten sind vergangen.

      „Und wie geht es weiter, Herr Falkenberg?“

      „Ja, wie wohl? Da habt ihr uns eine vollgekotzte Leiche serviert. Absolut erste Klasse, muss ich schon sagen. Der Zug bleibt stehen, bis Kripo und Notarzt hier sind.“

      „Ach, du lieber Himmel. Ich muss sofort die Zentrale in Hamburg benachrichtigen. Die müssen entscheiden, wie es weitergeht. Wahrscheinlich werden die den Fahrplan komplett umstellen und einen Ersatzzug schicken.“

      Bewegung kommt in den korpulenten Aufsichtsbeamten, der nun im Laufschritt in seine Diensträume eilt. Von dort vernimmt Polizist Falkenberg das schrille Läuten eines Telefons. Das wird eine unruhige Nacht. Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr. Null Uhr zwanzig. In seinem Büro greift er zum Telefon und wählt die Nummer der Kriminalpolizei Lüneburg. Scheunen Schiet dat, denkt der gebürtige Heidjer.

      In der Villa auf dem großen Areal in Blankenese mit Elbeblick verbreitet die abgedimmte Stehlampe im Jugendstil im Herrenzimmer mit den hohen Bücherwänden ein angenehmes Licht. In einem bequemen Ledersessel, dem englischen Kamin mit den müde flackernden Flammen zugewandt, sitzt der einzige wache Bewohner des Hauses. Der Mann mit den eisgrauen Haaren, dem energischen Gesicht lauscht dem leisen Knistern und der Melodie, die den Raum leise durchströmt. Er summt sie leise vor sich hin, während er gedankenverloren das geschliffene Kristallglas mit dem Single Malt aus der Familienbrauerei auf den Hebriden an die Lippen führt. Dabei verzerren sich seine Gesichtszüge vor Hass. Seine linke Faust ballt sich unwillkürlich. Ein Blick zur Kaminuhr, einem Erbstück seines Großvaters. Mitternacht ist lange vorbei.

      Es war an der Zeit gewesen, den Schritt zu tun. Ein letzter Schluck des bräunlich gelben Lebenswassers, so wie die Schotten ihren Whisky nennen, weich und leicht rauchig mit dem Geschmack und der Farbe der Bachläufe auf der Insel. Zufrieden lehnt sich der Mann im Sessel zurück. Seine Züge glätten sich, der Puls findet zur normalen Frequenz. Nach einer Weile erhebt er sich geschmeidig, trotz seines über die Lebensmitte hinausreichenden Alters. Er lauscht in den hohen Raum und nach oben. Doch alles bleibt still. Seine Ehefrau, die schon lange ein eigenes Schlafzimmer hat, bleibt unsichtbar. Egal, sie wird jederzeit beschwören, dass ich die Villa nicht verlassen habe. Sie braucht schließlich mein Geld.

      Bevor der Mann das herunterbrennende Kaminfeuer sich selbst überlässt, wirft er noch einen Blick in den kleinen Wandtresor hinter dem wertvollen Kandinsky.

      Der Anblick der vielen gebündelten Scheine mit den vierstelligen Zahlen macht ihn zufrieden. Der Ist-Zustand ist wieder hergestellt. Mit leichten, fast beschwingten Schritten gelangt er über die breite Marmortreppe in die obere Etage, in denen sich seine Räume befinden. Heute werde ich wieder besonders gut schlafen, denkt der Mann, als er die Schlafzimmertür öffnet.

      Der Anruf von der Polizeiwache erreicht Kriminalhauptkommissar Kluge in seiner ersten Tiefschlafphase, kurz nach ein Uhr morgens. Wenig später ist er hellwach, nachdem er mit dem schnurlosen Telefon in der Hand das Schlafzimmer verlassen hat.

      „Tu mir einen Gefallen und sprich langsamer und leiser Kollege, ja?“

      „Okay, Bernhard. Ich bin in einem ICE-Waggon auf einem Abstellgleis am hiesigen Bahnhof. Wir haben einen Toten in der Ersten Klasse, der nicht so gut aussieht.“

      „Wie, was heißt das? Kannst du das etwas konkreter beschreiben, Kollege Bauer?“

      „Also, männliche Leiche in Bauchlage, voll mit Erbrochenem und rosarote Hautverfärbung. Keine sichtbaren Verletzungen. Leichenstarre eingetreten. Könnte eventuell eine Vergiftung