Ulrich W. Gaertner

Trilogie des Mordens


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      Kluge winkt den Bestattern zu. Wenig später kommen die zwei grau gekittelten Männer mit einem ebenfalls grauen Transportsarg aus Kunststoff heran geeilt. Vorsichtig wollen sie die Leiche mitsamt der Plane in den Sarg betten.

      „Halt, halt. Einen Moment noch.“

      Die Männer blicken verdutzt.

      Kluge zieht aus seiner Tasche zwei große Plastikbeutel und reicht sie Wender.

      „Streif’ sie bitte der Leiche über die Hände. Und unten zukleben. Vielleicht finden wir an den Fingern Hinweise auf das Gift – oder etwas unter den Nägeln.“

      Der Beamte nickt. Jetzt haben die Bestatter freie Bahn.

      „Noch weitere Wünsche, Herr Kluge?“, fragt der Ältere grinsend.

      „Alles im grünen Bereich, meine Herren. Also, die Leiche kommt in die Pathologie des Städtischen Krankenhauses!“ Kluge betont den Bestimmungsort.

      „Und nicht wie das letzte Mal in die Friedhofskapelle am Waldfriedhof!“

      Jetzt ist er es, der ironisch grinst.

      „Und nun mal los. Verfahren Sie sich nicht.“

      Peng, das hat gesessen. Die Ermittler grinsen voller Schadenfreude hinter den beiden Graukitteln her, als diese düpiert mit dem schweren Sarg zum Fahrzeug stapfen.

      „Haben wir schon die Personalien des Toten, Jürgen?“

      „Bis jetzt noch nicht. Im Jackett habe ich nichts gefunden. Aber vielleicht im Gepäck. Ich meine, da lag ein schwarzer Aktenkoffer in der Ablage.“

      „Okay. Ich will den Kollegen vom Bund Bescheid sagen, dass der Waggon noch hierbleiben muss. Danach können die das Flatterband vom Bahnsteig einsammeln.“

      Kluge blickt auf die Uhr. Schon nach vier. Frisch ist es auf dem Bahnhof geworden. Die ersten Frühreisenden sind zu sehen. Die nächtliche Kühle lässt ihn frösteln und an sein warmes Bett denken. Von der Stadt dringen die Geräusche fahrender Autos herauf. Wahrscheinlich die ersten Lieferanten und Wochenmarktaussteller. Aber auch wir werden heute reichlich zu tun haben. Was wird uns der neue Fall bringen? Welches Schicksal verbirgt sich dahinter, und was für ein Mensch war der Tote? Hatte er Frau und Kinder? Nach seinem Äußeren zu urteilen, bestimmt niemand aus dem Sozialhilfemilieu. Aber das will nichts sagen. Dann geht Kluge mit seinen raschen Schritten in Richtung Bahnpolizeiwache. Der Notarzt fällt ihm ein. Dem geht es auch nicht viel besser als uns. Im Gegenteil. 36-Stunden-Schichten sind im Krankenhaus ganz normal.

      Der neue Fall hat sich schnell auf der Dienststelle herumgesprochen. Als Kluge nach Abschluss des „Ersten Angriffs“, also den ersten Ermittlungen am Tatort, das Dienstgebäude erreicht, wird er auf dem Großen Hof von den Kollegen des Fahrdienstes angesprochen.

      „Na, Bernhard, da habt ihr wieder ein schönes Scheißding an den Hacken, was?“

      So oder ähnlich lauten auch die Sprüche der später eintreffenden Kollegen, die besorgt an ihr Wochenende denken. Der eine oder andere gehört der Mordkommission an, und das bedeutet grundsätzlich Abordnung zum Dienst auf unbestimmte Zeit. Kluge grinst in sich hinein. Er kennt das. Aber ob bei dem jetzigen Sachstand bereits eine Kommission mit hohem Personaleinsatz erforderlich ist, kann erst nach einer Lagebeurteilung und Besprechung mit dem Leiter der Polizeiinspektion entschieden werden.

      Ungefähr zwölf Stunden später, Freitagnachmittag um viertel nach Vier, hat sich das Dienstgebäude der Polizeiinspektion bis auf wenige Beamten geleert. Ein Frühlingswochenende steht vor der Tür, und da sieht jeder zu, dass er möglichst weit weg ist von der Dienststelle. Im Fall der unbekannten ICE-Leiche hält der Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, des junge Kriminalrat Tödter, die Einrichtung einer Mordkommission für erforderlich. Kluge als Leiter des Fachkommissariats für Tötungsdelikte hingegen hat sich noch nicht entschieden.

      „Meine Leute reichen aus. Außerdem müssen wir das Obduktionsergebnis abwarten. Hinzu kommt, dass unsere Staatsanwaltschaft noch mit der Staatsanwaltschaft in Hamburg abklärt, durch wen die Sachbearbeitung erfolgen soll, weil der Tatort auf Hamburger Gebiet liegt.“, erklärt Kluge. Nachdem er über den Fund eines vermutlich gedruckten und nicht mit einer Schreibmaschine geschriebenen Abschiedsbriefes berichtet hat, der bei der Spurensicherung im 4. Kommissariat auf Fingerspuren ausgewertet werden soll, stimmt der ZDK-Leiter widerstrebend zu. Deshalb sitzen kurz darauf zwei Kriminalbeamtinnen und fünf männliche Kollegen in Kluges großem Dienstzimmer, das er als Leiter und Nachfolger der vorzeitig pensionierten Ersten Kriminalhauptkommissarin Gundula Michels beziehen durfte.

      Zusammen stellen sie die Mannschaft des 1. Fachkommissariats dar, die mit gleich bleibend hoher Motivation versucht, den schweren Sexualdelikten, Brandstiftungen und Tötungsverbrechen in Stadt und Landkreis Lüneburg, Herr zu werden. Zur Motivation trägt die hohe Aufklärungsquote in diesen Deliktgruppen bei, die im Gegensatz zu Raub- und Diebstahl Delikten zwischen 65% und 95 % beträgt. Aber diese Ergebnisse müssen in mühseliger, zeitraubender und hartnäckiger Art und Weise erarbeitet werden. Die Kaffeetassen scheppern, als Kluge seinem Vertreter Kriminalhauptkommissar Scharnhorst das Wort erteilt.

      „Fang’ bitte an, Winfred. Der Tag ist schon alt genug.“

      Dieser greift zu den Aufzeichnungen von der Obduktion.

      „Schöne Grüße von den Hamburger Gerichtsmedizinern. Sie bedanken sich für den Auftrag und würden dich gern mal wieder sehen …“

      Kluge grinst abwartend, und schon erfolgt die spontane Reaktion von Mike Gebert, einem jüngeren Oberkommissar mit scharfem Mundwerk.

      „Liegend oder stehend? Wenn ich mir das so vorstelle, Bernhard nackt auf dem kalten Metalltisch, brrr…“

      Die aufgebaute Spannung und der vorhandene Frust über ein zu erwartendes, arbeitsreiches Wochenende, entladen sich in fröhlichem Gelächter. Nachdem sich der Lärm gelegt hat, setzt Scharnhorst nochmals an.

      „Todesursache: Intoxikation nach Inhalation von Cyan, also Blausäure.“ Er macht eine bedeutungsvolle Pause.

      „Als der Doktor den Mageninhalt freilegte, konnte man den typischen Bittermandelgeruch wahrnehmen. Ganz schwach zwar, aber immerhin Ähnlich war es bei der noch in den Lungenflügeln vorhandenen Luft. Als der Doc den Brustkorb zusammendrückte und die Rippen knackten, strömte aus Mund und Nase ein ähnlicher Geruch.“

      „Na klar, du musstest ja wie üblich deine Nase wieder in alles rein stecken.“

      Das ist er wieder, der vorlaute Mike. Doch dieses Mal lacht keiner. Es klopft an der Tür. Auf Kluges „Herein!“ erscheint der Spurensicherer vom 4. Kommissariat. Ein blonder junger Mann, Angestellter, bekannt für seine Zuverlässigkeit. Auch er war bei der Obduktion dabei. Kluge schiebt ihm einen Stuhl hin. Gleichmütig setzt Scharnhorst seine zum zweiten Male unterbrochene Erläuterung fort.

      „Am gesamten Körper keine äußeren Merkmale von Gewaltanwendung. Der Tod muss innerhalb von Sekunden eingetreten sein“, leiert er herunter.

      Die seit einem Jahr im Kommissariat arbeitende Polizeioberkommissarin Jutta Schneider wendet sich an den Vorleser.

      „Winfried, könntest du mir bitte zum besseren Verständnis den physikalischen Ablauf nach der Giftaufnahme erklären?“

      „Na gut, wenn’s sein muss. Im Organismus wird nach der Inhalation – also nach dem Einatmen der freigewordenen Cyan-Verbindung – das toxisch wirkende Zyanid freigesetzt. Das führt zu einer sofortigen Blockierung der Zellatmung, die eine Sauerstoffverwertung im Gewebe verhindert. Dadurch kommt es zur inneren Erstickung. Das ist doch richtig, Bernhard, oder?“

      „Total, dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Oder ist jemand anderer Meinung?“

      Jutta Schneider ist zufrieden mit der Erklärung und fährt sich mit den Händen durch ihre dunkelblonde Lockenmähne.

      „Die beiden Doktors haben die erforderlichen Proben an Körperflüssigkeiten aus Magen-Darm-Inhalt und Nieren sowie Blut entnommen und in besonders dichten Behältnissen asserviert. Der Gasinhalt