Vater einer Tochter, ihren Kummer nachfühlen. Es war nicht leicht zu begreifen, wie ein blonder Engel auf dem Weg zur Schule verschwinden konnte, als sei er vom Erdboden verschluckt worden.
Er verstand es auch nicht.
Sein wie für die Ewigkeit gezogener Scheitel rötete sich leicht, und unter dem mit Pomade fixierten Kurzhaarschnitt bildete sich trotz der Kälte im Bureau ein Film feinster Schweißtröpfchen. Als Frau Winterstein vor wenigen Tagen angab, ihre Tochter sei von der Schule nicht nach Hause gekommen, hatte er sich nicht ausmalen können, wie sich dieser Fall entwickeln würde. Kein Problem, war sein erster Gedanke, bis zum Abend bringen wir die Kleine nach Hause zurück. Doch das Mädchen fand sich nicht wieder ein. Das wirklich Irritierende war aber, dass niemand das Kind gesehen hatte. Weder am Tag seines Verschwindens noch danach. Nicht einmal die neugierige und überaus schwatzhafte Frau Janker, die im Parterre direkt gegenüber der Schule wohnte und wirklich alles mitbekam, was in der Straße vor sich ging.
Es gab nur drei Möglichkeiten. Erstens: Das Kind war tot. Der weiße, zarte Körper lag irgendwo leblos mit einer blutroten Wunde quer über den Hals. Doch daran mochte Fritz Ganter gar nicht denken. Die andere Möglichkeit, so schien ihm, war auch nicht viel besser: Das schmächtige Kind in der Hand eines Wüstlings, der es in irgendeinem Keller gefangenhielt. Auch eine dritte Variante konnte er nicht ausschließen. Entgegen der Darstellung der Mutter war es möglich, dass es sich bei dem Mädchen um eines von der abenteuerlustigen Sorte handelte. Konnte es also sein, dass niemand sie gesehen hatte, weil sie das selbst so wollte? War der Augenstern der Mutter schlicht durchgebrannt?
«Sie können doch hier nicht so untätig rumsitzen, während irgendjemand meinen Liebling verschleppt hat! Von allein wird Trude kaum an Ihren Schreibtisch kommen. Suchen Sie mein Kind! Sie tun doch überhaupt nichts! Am Ende ist sie gestürzt und liegt irgendwo, hilflos!»
Fritz Ganter beschloss, stoische Ruhe zu bewahren. Natürlich hatten sie den Weg zur Schule abgesucht - großräumig. Unter jedem Busch und hinter jedem Baum suchten Polizisten und Freunde der Wintersteins, doch das Kind wurde nicht gefunden.
«Sie wissen, dass wir …» Weiter kam er nicht.
Rüde fiel ihm die Mutter ins Wort: «Dann tun Sie mehr! Trude ist ein wohlerzogenes Mädchen. Sie geht nicht mit Fremden mit. Sie bemühen sich gar nicht, meine Kleine zu finden!»
Ganter hielt für zehn Sekunden den Atem an - eine Methode, die sich bewährt hatte. Was wusste diese elegante Dame schon von Polizeiarbeit? Er musterte ihre verhärmten, sorgenvollen Züge, und plötzlich war sein Zorn verraucht. Sie tat ihm leid. Wenn er ihr erzählte, wo er schon überall nach der Kleinen gesucht hatte - die Augen würden ihr übergehen! Erst gestern eine Razzia im Puff von Madame Antoinette. Im Hinterzimmer hatten sie einige Dresdner Größen beim illegalen Glücksspiel ertappt, von Trude aber keine Spur gefunden.
«Frau Winterstein, ich verstehe Ihre Aufregung. Es ist natürlich schrecklich, wenn die kleine Tochter nicht nach Hause kommt. Sie können mir glauben, wir versuchen alles, um Trude zu finden.» Beinahe hätte er hinzugefügt: Und wenn wir jeden Stein umdrehen müssen. Es gelang ihm allerdings in letzter Sekunde, sich auf die Lippen zu beißen und den Fauxpas zu verhindern. Diese flapsige Redewendung wäre von der hysterischen Mutter womöglich so ausgelegt worden, dass die Polizei gar nicht mehr daran glaube, Trude lebend zu finden. Denn wer unter einem Stein liegt, ist in der Regel tot.
In die Augen der Mutter schlich sich ein bösartiger Ausdruck. Ganter, der ein sorgfältiger Beobachter war, bemerkte es sofort. Er ahnte, was nun unweigerlich kommen musste.
«Wenn die Suche nach meinem Liebling Sie derart überfordert, werde ich mit Ihrem Vorgesetzten reden, damit er Sie von dieser Aufgabe entbindet!», intonierte sie schrill.
Ganter wartete eine geschlagene Minute, bevor er freundlich erklärte: «Das hat Ihr Arbeitgeber bereits getan. Nach diesem Gespräch wurde ich von meinem Vorgesetzten ausdrücklich für meine bisher geleistete Arbeit in dem Fall gelobt. Niemand denkt daran, mich abzuziehen. Frau Winterstein, der Schmerz über das unerklärliche Verschwinden Ihrer Tochter verstellt Ihnen den Blick!»
Falls er erwartet hatte, sie sei nun entsprechend zerknirscht oder gar beschämt, sah er sich enttäuscht. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen offener Hass sprühte.
«Vor mir werden Sie erst wieder Ruhe haben, wenn Sie meine Trude gesund bei mir abgeliefert haben!», zischte sie bebend Und Ganter befürchtete, dass es genau so sein würde. Doch in dem Augenblick, als Frau Winterstein die Bureautür mit Schwung hinter sich zuknallte, hatte er eine Idee: Konrad! Der würde ihm sicher helfen.
ZWEI
DER UMSCHLAG in der Innentasche seines warmen Mantels knisterte leise bei jeder Bewegung. Immer wieder verirrten sich seine Finger an die Stelle über seinem Herzen, als könnten auch sie es nicht glauben: Konrad Benno Katzmann, Dresdenkorrespondent der Leipziger Volkszeitung. Und das mit 22 Jahren, so kurz nach Abschluss seines Studiums. Unfassbar! Ein eigenes Aufgabengebiet ganz in seiner Verantwortung. Gut, räumte er in Gedanken widerwillig ein, Leistner, der Redakteur, redete noch mit - aber sonst niemand.
Womit sollte er beginnen, vielleicht mit einer Artikelserie? Oder lieber mehrere Artikel über unterschiedliche Themen?
Hinter dem Fenster huschte im Tempo des Zuges die karge Winterlandschaft vorbei. Dürre Äste der Bäume reckten sich dunkel vor einem grauen Himmel. Er wusste, dass es kalt war, auch wenn er es hier im Abteil nicht so deutlich spürte. In Dresden würde ihn die Kälte beim Aussteigen anfallen wie ein wildes Tier.
Natürlich hatte er nicht vor, über das Wetter zu schreiben. Das konnte er getrost anderen überlassen, die nicht müde wurden, Parallelen zwischen dem Grau des Novembers und der politischen Entwicklung zu ziehen. Ihm schwebte etwas anderes vor: Er wollte Leipzigs und Dresdens Bürger gleichermaßen mitreißen und Optimismus verbreiten, die Menschen stärken für eine neue Politik in einer neuen Zeit!
Die Gesellschaft, in der er aufgewachsen war, befand sich im Umbruch. Doch genau das sorgte auch für Angst und Besorgnis unter den Menschen, die im Moment nichts so sehr herbeisehnten wie den Frieden. Zwar sprach die Presse immer wieder davon, dass nun endlich ein friedliches Zeitalter beginne und dass eine neue soziale Gerechtigkeit bald allen Glück und Wohlstand bringe. Doch wenn die Menschen sich umschauten, dann sahen sie nur die große Arbeitslosigkeit und das Chaos nach der Abdankung des Kaisers. Wilde Spekulationen von mehr oder weniger Kundigen machten die Runde, jedes Gerücht sorgte für Unruhe. Demonstrationen waren an der Tagesordnung, und da allen die notwendige Erfahrung mit der neuen Regierungsform «Demokratie» fehlte, schürten sie bei den einen tiefste Sorgen und den anderen zu große Erwartungen. Im Grunde konnten die meisten sich eine Zeit ohne Kaiser und König gar nicht vorstellen.
Diese Verunsicherung war nichts Besonderes, die gab es in Dresden wie anderswo. Katzmann seufzte tief. Selbstverständlich wäre ein Artikel über die geplante Versammlung bei Sarrasani Pflicht. Doch fanden solche Kundgebungen so gut wie überall statt, wenn auch meist in Zelten und Hallen und nicht in solch prunkvollem Rahmen, wie ihn das Rundhaus des Zirkus in Dresden bot. Katzmann suchte nach einem außergewöhnlichen Thema für seinen Artikel.
Noch eine halbe Stunde bis Dresden. Katzmann freute sich auf das Gespräch mit seinen Eltern. Endlich konnte er ihnen beweisen, dass man als Reporter Karriere machen konnte. Sein Vater redete schon seit Wochen auf ihn ein, er solle gründlich die Konsequenzen seines Handelns und der getroffenen Entscheidungen bedenken, es sei nicht zu spät, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Aber was hieß das schon? Wilhelm Katzmann wetterte beharrlich gegen die Errichtung einer Republik und prophezeite Chaos und Verderben. War das auch die Stimme der Vernunft?
«Wohin soll das alles führen?», war die Phrase, die ohne Ausnahme in einen heftigen Disput zwischen Vater und Sohn mündete. Besonders wetterte der Vater gegen die Kommunisten, aber die Sozialdemokraten blieben auch nicht ungeschoren. Am schlimmsten jedoch war, dass Konrad nun ein Parteibuch hatte, eines der USPD. Daran kam man nicht vorbei, wenn der Arbeitgeber die Leipziger Volkszeitung war. Konrad hatte zunächst gezögert, wollte sich politisch nicht binden lassen, seine freie Meinung nicht aufgeben, sich nicht verbiegen müssen. Solange er