Horst Bosetzky

Turnvater Jahn


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      »Halt’s Maul, du Nationalist!«, rief einer aus dem Block der Linken.

      Da schrie ich: »Ich bin begeisterter Europäer und wünsche mir die Vereinigten Staaten von Europa lieber heute als morgen, aber man wird doch noch den Versuch machen dürfen, die Menschen von damals zu verstehen!«

      Die Jahn-Freunde pflichteten mir bei. »Damals hat ein großer Teil der Jugend die Turnerei begeistert begrüßt. Sie gab Kraft und steigerte das Selbstwertgefühl.«

      Jahn gab sich nun würdig und bedeutsam. »Der Mensch muss auf Körper und Geist achten und beiden die bestmögliche Entwicklung zukommen lassen.«

      »Frisch, frei, fröhlich und fromm!«, riefen seine Fans und begannen, ein Lied aus der Zeit des Vormärz zu singen:

       Turner, auf zum Streite!

       Tretet in die Bahn.

       Kraft und Mut geleite

       uns zum Sieg hinan!

       Ja, zu hehrem Ziel

       führet unser Spiel.

       Auf denn, Turner, ringet,

       prüft der Sehnen Kraft.

       Doch zuvor umschlinget

       euch als Bruderschaft.

       Großes Werk gedeiht

       nur durch Einigkeit.

      Die Jahn-Gegner blieben unbeeindruckt. »Er war außerdem Antisemit!« Sie gerieten zusehends in Rage und verlangten nach einer Stange Dynamit. »Dieses Denkmal hier sollte endlich in die Luft gesprengt werden. Zumindest sollte man es abreißen – wie das von Lenin.«

      »Das Denkmal bleibt!« Die Turner stellten sich schützend davor. »Es ist die Pflicht des deutschen Volkes, dem Manne die Ehre zu erweisen, der die Jahre seiner Jugend hingegeben hat, um das Bewusstsein deutscher Einheit und Kraft zu wecken.«

      Jahn verlor die Fassung und polterte los: »Zum Teufel mit euch Linken, die ihr Deutschland mit einer Revolution von allen Übeln befreien wollt! Lügner und Betrüger seid ihr, Abenteurer und Gelichter, Advokaten von schlechtem Ruf, Ärzte mit Kirchhofpraxis, verdorbene Schauspieler, liederliche Studenten, verrückte Schulmeister, vom Professor bis zum Arschpauker, und im Handel zugrundegegangene Kaufleute. Ihr Götzen, die der Pöbel anbetet!«

      Ich klatschte Beifall. »Bravo, so liebe ich meine Helden!«

      Nun nahmen die Jahn-Gegner mich aufs Korn. »Bosetzky, lass dein Jahn-Buch sein/​Sonst schmeißen wir dir alle Scheiben ein!«

      Ich hatte gehofft, dass Jahn mich in Schutz nehmen würde, doch auch er begann, mich verbal zu attackieren. »Herr Bosetzky, Sie hatten im Turnunterricht immer eine Fünf. Sie sind doch überhaupt nicht in der Lage, etwas über die Turnerei zu schreiben!«

      »Das mag sein, aber im Sommer hatte ich in der Leichtathletik immer eine Eins, und in meiner Jugend war ich einmal schnellster Hundertmeterläufer in Berlin.«

      Nun erschien auch noch mein Verleger auf der Bildfläche. »Der Name Bosetzky steht für Berlin-Romane, Jahn ist aber kein Berliner und hat nur wenige Jahre seines Lebens in dieser Stadt verbracht.«

      »Aber Brandenburger ist er wenigstens, er stammt aus der Prignitz«, hielt ich ihm entgegen. »Außerdem stelle ich ihm in meinem Roman einen Freund zur Seite, Philipp Pulvermacher, der in Berlin wohnt und stets anwesend ist, wenn in der Stadt Geschichte geschrieben wird. Entscheidend aber ist: Friedrich Ludwig Jahns Leben ist so voller Geschichten, dass ich nicht widerstehen kann, darüber zu schreiben. Oder wie er selbst wahrscheinlich sagen würde: Es ist ein gefundenes Fressen.«

      Weiter kam ich nicht, denn Jahn und die Hasenheide wurden plötzlich wie zu Beginn des Stücks von gleißendem Licht erfüllt. Mir wurde schwindlig. Da wusste ich endlich, was mit mir geschehen war: Ich war stark unterzuckert. Instinktiv fuhren meine Hände in die Taschen meiner Lederweste und fischten ein paar zerbröselte Traubenzuckerplättchen heraus. In diesem Moment packten mich zwei Zivilfahnder von hinten und nahmen mich fest – wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nun, zerbröselten Traubenzucker kann man schon einmal für Rauschgift halten. Besonders in der Hasenheide. Eine Joggerin hatte eine kleine Flasche Apfelsaft bei sich und konnte mich retten. Sonst wäre dieser Roman nicht entstanden.

      So breite ich also Jahns Leben vor Ihnen aus.

      1

       Der Herr segne dich

      1785 – 1791

      Prächtig und machtvoll wie Moses stand sein Vater oben auf der Kanzel und wies den Menschen die Richtung. Für die Predigt an diesem Sonntag hatte er sich eine Stelle aus dem Matthäus-Evangelium ausgesucht. Er begann mit dem zweiten Vers aus dem dritten Kapitel.

      »Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Buße tun, liebe Gemeinde, was heißt das? Es bedeutet Umkehr zu Gott, nicht nur im Denken, sondern auch in unserem täglichen Handeln. Es bedeutet, nicht schlecht über unseren Nächsten zu reden, ihn nicht zu hassen und ihm nicht zu schaden, sondern ihn gern zu haben und ihm Hilfe zuteilwerden zu lassen, denn wir sollen unseren Nächsten lieben wie uns selbst und nach den zehn Geboten handeln. Am wichtigsten ist der Gehorsam gegenüber Gott und gegenüber der Obrigkeit, denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott. Die Umkehr zu Gott schließt auch eine Abkehr von allen bösen und widergöttlichen menschlichen Neigungen und Schwächen ein.«

      Nun las der Vater seiner Gemeinde die Leviten, und Friedrich Ludwig Jahn, gerade sieben Jahre alt geworden, hatte seine Freude daran, wie sich die Zuhörer hinter den Rücken ihrer Vordermänner duckten. Dachte er an seine eigenen Sünden, musste er sich eingestehen, dass er einiges auf dem Kerbholz hatte, zusammen mit seinem Freund Philipp. Sie hatten dem Vater den Ärmel seines Hemds zugenäht, so dass er am Morgen mit der Hand steckengeblieben war und gotteslästerlich geflucht hatte. Sie hatten, als sie den Knechten und Mägden auf den Feldern das Mittagessen bringen sollten, unterwegs die Hälfte selbst aufgefuttert. Sie hatten bei ihren Schießübungen mit Pfeil und Bogen dem Nachbarn Galow die Scheibe seiner guten Stube zerschossen. Sie hatten der Mutter die frische Milch weggetrunken und die fehlende Menge durch Brunnenwasser ersetzt, so dass ihr das Buttern völlig misslungen war.

      Da jedoch alle Streiche aufgeflogen waren und er ein jedes Mal gehörig Prügel erhalten hatte, wollte Friedrich Ludwig nicht recht einsehen, warum er jetzt noch Buße tun sollte.

      Der Vater las nun wieder aus dem Matthäus-Evangelium vor: »Als nun Jesus an dem Galiläischen Meer ging, sah er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!«

      Menschenfischer – das gefiel ihm, das wollte er später auch einmal werden. So wie Jesus Christus oder Martin Luther oder Friedrich der Große. Dann konnte er sich hinstellen und sagen: »Alles hört auf mein Kommando!« Und die anderen würden ihm folgen und nicht murren oder mit Lehmklumpen werfen.

      Jetzt kam das Schönste am sonntäglichen Gottesdienst. Der Vater hob die Arme, um den Segen zu sprechen. Alle waren sie aufgestanden und hörten die Worte, die ihnen so guttaten wie eine Wundermedizin und ihnen die Kraft gaben, bis zum nächsten Sonntag alle Mühen und Leiden dieser Welt geduldig zu ertragen. »Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«

      Bei der Kirche des Dorfes Lanz handelte es sich um einen kleinen, schmucklosen Bau mit dicken Feldsteinmauern und einem hölzernen Turm. Es war märkischer Stil, typisch für die Prignitz. Alexander Friedrich Jahn arbeitete seit 1767 als