prächtigen Stadt an der Oder, und noch Gebiete in Polen, dem Ermland und in Ostfriesland. Wir brauchen uns nicht länger hinter Frankreich, Österreich und Russland zu verstecken, wir sind jetzt eine der großen Mächte in Europa. Aber nicht nur als Eroberer, auch als Musiker, Philosoph, Schriftsteller und Bauherr ist Friedrich der Große hervorgetreten. Ich zögere nicht, ihn einen Polyhistor zu nennen, ein Universalgenie. Jeder soll nach seiner Façon selig werden, das war seine Maxime. Damit hat er die Urformel der Toleranz geschaffen. Er hat die Folter abgeschafft, seine Untertanen vor Justizwillkür geschützt, auf die Einführung der Schulpflicht gedrängt und mit dem vermehrten Anbau von Kartoffeln dem Hunger ein Ende bereitet. Ja, meine liebe Gemeinde, der Herr hat uns mit Friedrich dem wahrhaft Großen ein unfassbar großes Geschenk gemacht.«
Als man nachher im Dorfkrug beim Frühschoppen beieinandersaß, stimmten die meisten der Predigt zu, es war aber auch vereinzelt Kritik zu hören, insbesondere von Germanus Pulvermacher, Philipps Vater. Der war eigentlich von seiner Familie dazu auserkoren gewesen, Rechtswissenschaften zu studieren, hatte aber das Studium ohne Abschluss beendet und war nach Lanz zurückgekommen, als sein Bruder starb und niemand sonst da war, den väterlichen Hof weiterzuführen. Es gab im Dorf kein Rittergut und keine Pächter, jeder war sein eigener Herr, was er als sehr verlockend empfunden hatte. Mit dem Pfarrer zusammen bildete er die geistige Elite in Lanz, doch in ihren Ansichten lagen sie zumeist weit auseinander, denn während der Hopfenbauer Pulvermacher eher Weltbürger war und eine republikanische Verfassung favorisierte, wie sie zum Beispiel San Marino hatte, war Pfarrer Jahn ein bodenständiger Mensch und konnte sich keine andere Staatsform als die Monarchie vorstellen. »Friedrich II. wird zu Recht Friedrich der Große genannt«, wiederholte Alexander Friedrich Jahn.
»Vielleicht sollten wir erst einmal darüber sinnieren, welche Persönlichkeit sich hinter diesem Friedrich eigentlich verbarg«, meinte Germanus Pulvermacher. »Er war ein innerlich zerrissener Mensch, Schöngeist auf der einen und Feldherr auf der anderen Seite. Und furchtbar ruhmsüchtig war er auch. Durch seine Kriege haben viele zehntausend Menschen ihr Leben verloren. Was hat er seinen Soldaten zugerufen, als sie nicht kämpfen wollten? ›Hunde, wollt ihr ewig leben?‹ Nicht sein Genie hat Preußen im Siebenjährigen Krieg gerettet, sondern das sogenannte Mirakel des Hauses Brandenburg. Es kam auch wirklich einem Wunder gleich, dass der Nachfolger der Zarin Elisabeth Frieden mit Preußen geschlossen hat.«
»Es war kein Wunder, sondern der Wille des Herrn!«, entgegnete Alexander Friedrich Jahn empört und begann, die Anwesenden mit einigen Randverfügungen des Königs zu unterhalten, die seit einiger Zeit in Preußen kursierten. »Ein Amtskollege von mir bat Friedrich um einen Zuschuss zum Unterhalt seines Pferdes. Der König notierte am Rand des Bittbriefes folgende Begründung für seine Ablehnung: Es heißt nicht: reitet in alle Welt, sondern gehet in alle Welt und predigt allen Völkern. Ein Beamter beschwerte sich schriftlich, dass er bei einer Beförderung übergangen worden sei, und Friedrich schrieb an den Rand: (…) ich habe einen haufen alte Maulesels im Stal die lange dienst machen aber nicht das Sie Stalmeisters werden. Ein Schäfer hatte in religiösem Wahn seinen Sohn umgebracht. Friedrich gab auf dem Todesurteil folgende Anweisung: Galgen und Rad bessern solche Narren nicht. Bringt den Kerl ins Tollhaus und laßt ihn dort menschlich und vernünftig behandeln.«
Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher, die Söhne, hatten sich an das Fenster des Gasthauses geschlichen, um zu hören, was drinnen gesprochen wurde. Der junge Jahn war hin und her gerissen. Einerseits vergötterte er Friedrich II., andererseits nahm er ihm übel, dass er die französische Sprache über alles geliebt hatte und sie auch viel besser beherrschte als die deutsche.
Philipp Pulvermacher lachte, als Jahn im seine Gedanken mitteilte. »Hätte er etwa preußisch sprechen sollen?«
Jahn stutzte. Soweit er wusste, gab es viele Dutzend Dialekte in Deutschland, zum Beispiel Sächsisch, Bayerisch oder Schwäbisch – aber kein Preußisch, höchstens Ostpreußisch. Doch wie sich das anhörte! »Mamsall, nimm dem Kodder und jeh auf dem Lucht! Der Schmand ist ieberjeschwaddert.« Sein Vater konnte das gut nachmachen. Aber das gefiel ihm nicht. »Alle müssen richtig deutsch sprechen, so, dass man sie auch verstehen kann«, entschied er.
»Deutschland gibt es doch gar nicht wirklich«, stellte Pulvermacher fest. »Es gibt nur das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.«
»Deutschland muss es aber geben!«, rief Jahn.
»Mit Friedrich dem Großen als Kaiser«, spottete Pulvermacher.
»Mit einem Hohenzollern als Kaiser.«
Pulvermacher lachte. »Das werden sich die anderen Staaten nicht gefallen lassen.«
»Ach was! Deutschland erwache!«
»Haha!«
Die Jungen liebten trotz ihrer kleinen Meinungsverschiedenheiten nichts mehr, als Szenen aus dem Leben Friedrichs des Großen nachzuspielen, vor allem Schlachten, in denen die großen Reitergeneräle Friedrich Wilhelm von Seydlitz und Hans Joachim von Zieten gekämpft hatten. Jahn verehrte von Seydlitz und wäre gern so gewesen wie er.
Wieder einmal war auf dem Dorfanger die Schlacht bei Roßbach geschlagen worden, und die Preußen hatten die gegnerischen Truppen in die Flucht geschlagen.
Friedrich der Große, verkörpert von Philipp Pulvermacher, trat vor, um General von Seydlitz in Person von Friedrich Ludwig Jahn den Hohen Orden vom Schwarzen Adler an die Brust zu heften. »Ohne Euch wären ich und Preußen nicht mehr!«, lobte der König.
»Euch zu dienen, Majestät, ist meine einzige Berufung«, gab der General zurück.
Am meisten bewunderte Jahn Friedrich Wilhelm von Seydlitz für seine Haltung während der Schlacht von Zorndorf, die, das wusste er auf den Tag genau, am 25. August 1758 stattgefunden hatte. Auch dieses Gefecht stellten die Freunde nun nach. Die Russen unter General Wilhelm von Fermor waren kurz davor, den Preußen eine schmerzliche Niederlage zuzufügen, da sprengte eine Abordnung des Königs, dargestellt von Philipp Pulvermacher, auf Seydlitz zu, der abermals kein anderer war als Friedrich Ludwig Jahn.
»Seine Majestät befehlen augenblicklich den Angriff der Reiterei!«, ließ die Delegation verlauten.
Seydlitz gab sich gleichmütig und zog an seiner Tonpfeife. »Meine Intuition sagt mir, dass der rechte Augenblick dafür noch nicht gekommen ist.«
»Seine Majestät befehlen, und Ihr, Seydlitz, haftet mit Eurem Kopf für den Angriff!«
Seydlitz dachte nicht daran, seinen weißen Stulpenhandschuh wie eine Fahne zu heben und damit das Signal zum Angriff zu geben. »Sagt dem König, nach der Bataille gehört Ihm mein Kopf! In der Bataille brauche ich ihn noch zu Seinem Dienst.«
Seydlitz wartete auf einen günstigen Moment, überrumpelte die Russen und wendete mit einer fulminanten Kavalkade das Blatt zugunsten Preußens.
»Eigentlich war das Befehlsverweigerung«, sagte Pulvermacher, nachdem alle Soldaten, preußische wie russische, im Gras des Dorfangers lagen und ihre mitgebrachten Stullen aßen. »Friedrich hätte Seydlitz eigentlich vor das Kriegsgericht stellen müssen, so wie der Große Kurfürst den Prinzen von Homburg nach der Schlacht bei Fehrbellin.«
»Der Sieg ist alles!«, war Jahn überzeugt.
»Ist er nicht!«, entgegnete Pulvermacher. »In keiner Armee kann jeder das tun, was ihm gerade beliebt.«
So stritten sich die beiden Jungen noch eine Weile, bis Vater Jahn kam und Friedrich Ludwig auf ein Pferdefuhrwerk lud. »Wir fahren zum Rudower See, damit du endlich schwimmen lernst.« Seit Friedrich Ludwig fast ertrunken wäre und nur gerettet worden war, weil Philipp Pulvermacher ihn geistesgegenwärtig am Arm gepackt und ins flache Wasser gezogen hatte, stand der Schwimmunterricht an erster Stelle.
Der Rudower See war ein langgestrecktes Gewässer, das knapp hinter Lenzen seinen Anfang nahm und sich auf der Wittenberger Chaussee gut erreichen ließ. Hier konnte man gefahrloser üben als in der Elbe.
»Wir sind eben nicht wie Jesus«, sagte Philipp Pulvermacher, der mit auf dem Wagen saß. »Wir können nicht übers Wasser wandeln, sondern