Horst Bosetzky

Turnvater Jahn


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und lass das Lästermaul ferne von dir sein. Und ansonsten gilt: Mens sana in corpore sano

      »In Menz wohnt eine Tante von mir«, sagte Pulvermacher. »Das liegt am Roofensee, hinten im Ruppiner Land.«

      »Mens mit S hinten«, erklärte ihnen Vater Jahn. »Das ist lateinisch und bedeutet Geist. Der Sinnspruch heißt übersetzt: Ein gesunder Geist soll in einem gesunden Körper wohnen. Allerdings gefällt er mir umgekehrt besser: Nur in einem gesunden und kraftvollen Körper kann sich ein gesunder Geist entwickeln. Wisst ihr, woher unser Wort Gymnasium kommt? Vom griechischen Gymnasion. Das war der Ort, an dem die Athleten für die Wettkämpfe geübt haben.«

      Endlich konnte Friedrich Ludwig richtig schwimmen, aber erst, nachdem ein alter Grönlandfahrer als Lehrmeister angeheuert worden war. Das Reiten brachten ihm Ulanen bei, bewaffnete Reiter, die ihre Pferde auf den Lanzer Weiden grasen ließen. Laufen und Klettern steckte den Dorfkindern ohnehin im Blut, und sie taten es von sich aus zur Genüge. Jahn war den anderen überlegen, weil er einmal den Affen zugesehen hatte, die vom mecklenburgischen Herzog im Schloss zu Ludwigslust gehalten wurden. Von denen konnte man viel lernen. Bei Jahn kam aber noch eine ganz besondere Art von Kraftübungen hinzu. Er half dem Vater regelmäßig bei der landwirtschaftlichen Arbeit. Das ließ die Muskeln wachsen. Doch damit nicht genug. »Der Mensch ist ein Lauftier«, pflegte der Vater zu sagen, und so oft es eben ging, nahm er den Sohn zu ausgedehnten Wanderungen mit. Unterwegs übte man Stellen aus der Bibel, insbesondere aussagekräftige Psalmen. Der Vater sprach die ersten Worte, Friedrich Ludwig musste fortfahren.

      »Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn …«

      »… er wird’s wohl machen.«

      »Gut! Siehe, ich liebe deine Befehle …«

      »… Herr, erquicke mich nach deiner Gnade.«

      Im Jahre 1787 schien der Herr dieser Bitte nicht nachzukommen, denn Friedrich Ludwig Jahn litt plötzlich unter starken Schmerzen im Kreuz, bekam hohes Fieber und einen so starken Schüttelfrost, dass ihm die Zähne klapperten. Dann zeigten sich am ganzen Körper Eiterbläschen, die schließlich aufplatzten und einen unangenehmen Geruch verbreiteten.

      »Er hat die Blattern«, diagnostizierte der Arzt aus Lenzen. Aber dass es die Pocken waren, hatte man im Pfarrhaus auch vorher schon gewusst.

      »Wie ernst ist es?«, fragte der Vater.

      »Hm … «, machte der Arzt, und das zeigte, dass es nicht gut aussah für Friedrich Ludwig. Erblindung, Verlust des Gehörs, Lähmungen und Hirnschäden drohten. Schlimmstenfalls der Tod.

       Der Mensch wird durch die Verachtung mehr gerührt, als durch Verabscheuung oder Hass. Verachtung ist für die Menschen am allerunerträglichsten. Wenn ein Mensch gehasset wird, so kann er es doch noch ertragen, weil sich doch noch andere seinetwegen inkommodieren und sich ärgern, wird er aber verachtet; so inkommodiert sich kein Menschen seinetwegen, er ist ihm ganz gleichgültig, und er frägt gar nichts nach ihm.

      Der Mann, der Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher diesen Text von Immanuel Kant mehrmals hintereinander vorlas, war ihr neuer Hauslehrer. Nachdem Friedrich Ludwig von den Blattern glücklicherweise vollkommen genesen war, hatte sich der Vater mit Germanus Pulvermacher zur Beratung zusammengesetzt. Eine allgemeine Schulpflicht gab es noch nicht, und die gemeine Dorfschule von Lanz wollten sie ihren Kindern nicht zumuten. So hatten sie die Söhne zunächst selbst unterrichtet und auch die Mütter zu deren Belehrung herangezogen, nun aber merkten sie, dass ihr Wissen und vor allem ihre Zeit nicht ausreichten. Ihre Wahl war auf Friedlieb Schmellwitz gefallen, der aus Wittenberge kam und mehrere Jahre lang Philosophie und die Geschichte der Antike studiert hatte, ohne einen Abschluss in der Tasche zu haben. Er beschäftigte sich am liebsten mit Kant, weshalb er seine beiden Zöglinge auch gehörig mit dessen Schriften traktierte.

      »Was fällt euch ein, wenn ihr den Text über die Verachtung hört, den ich euch gerade vorgelesen habe?«, fragte Schmellwitz.

      Jahn meldete sich als Erster. »Dass ich nicht weiß, was inkommodiert heißt.«

      »Das kommt vom lateinischen Verb incommodare, was ›beschwerlich fallen‹ bedeutet. Sich inkommodieren übersetzen wir am besten mit ›sich Mühe machen‹.«

      »Warum sagt Kant das nicht gleich auf Deutsch?«, empörte sich Jahn. »Er kommt doch aus Königsberg.«

      Die Augen des Hauslehrers begannen zu leuchten. »Du sprichst mir aus dem Herzen. Wir brauchen eine einheitliche Muttersprache, damit unsere vielen kleinen Staaten zu einem großen Ganzen zusammenwachsen. Hinweg mit Latein und Französisch!«

      In den nächsten Tagen übte der Hauslehrer mit seinen beiden Schüler das Eindeutschen. »Repartie

      »Geistesgegenwärtige Antwort.«

      »À tout prix

      »Um jeden Preis.«

      Auf diese Weise begann Jahn zwar auch, französisch zu lernen, viel wichtiger war aber die Beschäftigung mit der deutschen Sprache.

      Auch ließ Schmellwitz keine Stunde vergehen, in der er nicht beklagte, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein großer Flickenteppich aus kleinen und kleinsten Staaten sei. »Wie sollen wir unter diesen Umständen jemals Geltung in der Welt erlangen?«

      Pulvermacher nahm ihn auf die Schippe. »Sagen Sie ruhig, dass wir eine quantité négligeable sind!«

      »Eine Größe, die vernachlässigbar ist«, übersetzte der Hauslehrer mit bösem Blick.

      Jahn fand den Zustand Deutschlands, Österreich dazugerechnet, wie Schmellwitz unerträglich. Täglich hatte er das Elend direkt vor Augen. Lanz und die Prignitz waren preußisch, nebenan lag das kleine Herzogtum Mecklenburg, das kaum lebensfähig war, und jenseits der Elbe dehnten sich mehrere kleinere Staaten und Kurhannover aus, das in Personalunion mit Großbritannien verbunden war. Und begleitete er Germanus Pulvermacher, wenn der Hopfen an die Küste, nach Wismar, lieferte, dann betrat er schwedisches Hoheitsgebiet.

      Über die Situation im Raume Thüringen und Sachsen machte sich Schmellwitz immer wieder lustig. »Dort gibt es das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, das Herzogtum Sachsen-Meiningen, das Herzogtum Sachsen-Altenburg, das Fürstentum Reuß Ältere Linie und das Fürstentum Reuß Jüngere Linie.«

      So ging es mit dem Unterricht durch den Hauslehrer Schmellwitz bis ins Jahr 1791 hinein, dann aber wurde das schmächtige Männlein durch Vermittlung eines Freundes zum Rektor einer Schule in Neustadt (Dosse) berufen, und in Lanz musste man sich etwas Neues einfallen lassen.

      »Ich denke, dass die Knaben nun auf eine richtige Schule gehören«, sagte Vater Pulvermacher. »Sonst verweichlichen sie nur und werden im Leben nichts Rechtes.«

      »Dann fragen wir unsere Söhne am besten selbst, welchen Weg sie einschlagen wollen.«

      »Ich möchte einmal Advokat werden«, erklärte Friedrich Ludwig Jahn. »Damit ich armen Bauern helfen kann, denen Unrecht geschehen ist.«

      »Und ich möchte Professor für die Geschichte der Antike und Philosophie werden«, sagte Philipp Pulvermacher.

      Die beiden Väter sahen sich an und waren sich einig, ohne noch ein weiteres Wort zu wechseln, dass die beiden Jungen aufs Gymnasium gehörten. Es bot sich die Schule in Salzwedel an.

      2

       Das Strafbuch füllt sich

      1791 – 1794

      Das Gymnasium in Salzwedel war stolz genug, nicht jeden Jungen aufzunehmen, der von seinen Eltern zum Unterricht angemeldet wurde. Die Kandidaten hatten sich zwar keiner hochnotpeinlichen Befragung zu unterziehen, doch die Aufnahmeprüfung war nicht leicht.

      Der Rektor hieß Christian Wolterstorff, war ein hochgebildeter Mann, Lehrer und