Wilfried Schneider

Das Mitternachtsschiff


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Kapitel 3

       Kapitel 4

       Teil XVI

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Teil XVII

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Teil XVIII

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       I

       Jetzt beginnt meine Zeitrechnung

      Abdi-ashirta von Zor

      »Schaut gen Libanon! Sein Fels atmet Melkarts Zorn! Tod! Tod für diese Stadt Zor!«

      Wie eine Furie tobte die Alte durch die Gassen. Zwei fluchende Lastträger warfen der Schreienden einen Knüppel nach: »Verschwinde! Näh dein Maul zu!«

      Der Gesang der Hirten, die auf den Weiden um Zor über die Ziegen wachten, verstummte. Ihre erregten Rufe drangen in die Ostsiedlung. Auf den flachen Hausdächern lagen zur Stunde vor dem Mittag nur wenige Alte, sie blickten in die fernen Berge, die den Wind gebaren.

      Luftwirbel trieben Staub zwischen die Häuser und rissen an den Fensterläden. Im Färberviertel deckten Purpurmeister Tücher auf die stinkenden Urinfässer vor ihren Werkstätten. Vorübergehende nutzten sie, wie es die Ämter angeordnet hatten. Der Wind trug den Gestank des Schneckensuds zum Stadthafen, in dem kaum zwei Handvoll Schiffe lagen. Ihre Masten bewegten sich wie dürre Arme streitender Marktfrauen.

      Zwei Ratsboten pressten sich schutzsuchend an die Hauswand, als sie ihre Stöcke gegen die Tür schlugen. »Eine Nachricht für den Großen Admiral unserer Stadt Zor!«

      Abdi-ashirta betrachtete ein zweites Mal die Zeichen auf dem Papyrus, die ihn nach Sonnenuntergang des neuen Abends in das Stadthaus riefen. Die Worte waren freundlich gesetzt, die Gesandten bezeugte ihren Respekt, und sie hielten zum Abschied die Knie tiefer gebeugt als üblich. Der Admiral stellte die Rolle in seine Schriftentruhe und stieg über die morsche Leiter auf das Dach. Die Tritte knarrten. Nun war der Auftrag an seinen Schiffszimmermann, eine neue Treppe zu schlagen, hinfällig geworden.

      Abdi-ashirta zog die Matte zurecht, setzte sich und kreuzte die Beine.

      »Du hast die Meeresluft nicht hinter dein Schiff gesogen, meine Weinterrassen warten auf den Regen dieser Zeit«, hatte ihm ein Nachbar zugerufen, als er nach fünf Dekaden in sein Haus zurückgekehrt war.

      »Reglos ruht die Stadt am Wasser«, sprach der Admiral die Zeile eines Liedes nach. »Berührt sind die Männer vom Willen der Macht«, fügte er mit seinen Worten hinzu.

      Das Haus lag erhöht, den Steinhängen näher als dem Meer. Über den Tag stützte er oft seine Knie gegen den Rauchabzug, blickte auf den Festlandshafen und den wie ein Band sich hinziehenden Damm nach Bursa. Er erinnerte sich an die Erzählungen seiner Mutter, die ihn vor langer Zeit als schreiendes Bündel auf die Insel getragen hatte.

      Wolken zerrissen das Sonnenlicht, ihre Schatten zogen schnell wie dahin jagende Pferde auf das Meer und segelten nach Südwest zur Lotosblüte, in die Welt des göttlichen Hapi.

      Kratzende Besen störten die Stille, Dienstleute säuberten die mit Platten belegten Gassen des Ostviertels, einer der Vorzüge, die Zors Stadtrat jenen gewährte, die in seinen Diensten standen. Hier drängten die Wohnungen sich nicht so dicht aneinander wie in anderen Bezirken der Siedlung. In der Hafenregion schienen die Dächer eine einzige Fläche zu bilden, von weitem glichen sie eher einem verlassenen Markt als Obergeschossen, sie waren auch nicht durch Planken gesichert wie die Villen vor den Bergen. Das Geflecht von Häusern und Gassen zog sich zur Nördlichen Mauer, deren breites Tor die Reisenden auf der Straße von Sidon her einsaugte.

      Der Wind erwachte von Neuem. Die Insel entzog sich den Blicken, wieder wehten die Staubschleier zum Meer, ein ungewöhnliches Spiel der Berge, zur Jahreszeit der tiefen Sonne ihren Atem auf die Abendseite zu blasen. Abdi-ashirta lehnte sich über die Planken. Schreiende Jungen zogen am Haus vorbei und jagten einen kläffenden Köter durch die Gasse, eine ewige Mutprobe, an der auch er sich bis zu jenem Tag beteiligt hatte, da das Nachbarmädchen Talaya traurig ihr Gesicht abwandte.

      Am Abend dieses längst vergangenen Tages hatte er den Gefährten seiner Kindheit eine Geschichte des Großvaters Samranu erzählt, die Geschichte der bei einem großen salzigen See gelegenen Stadt Remora, die an zwei Tagen und in einer Nacht, als der Boden bebte, brennende Luft aus der Erde stieg und das Land sich verflüssigte, von einer grausamen Macht in die Tiefe gezogen wurde.

      »Dein Großvater auch? Und er lebt noch?«, hatten die Jungen gespottet und weiter ihr Sklavenjäger-Spiel getrieben, Arme waren Masten und Stofffetzen die Segel. Die Starken kämpften als Schiffsführer und Soldaten, die Kleinen wurden gefangen und auf dem Markt, es war der verwilderte Garten einer leeren Villa, zum Verkauf ausgestellt. Jeder wollte Pirat sein oder König oder der Schreckliche Einäugige, ein damals berühmter Bootsmann. Talaya hatte seine Hand genommen und ihn weggezogen.

      »Was ist mit den Menschen in Remora geschehen?«, hatte sie gefragt.

      »Manche konnten weglaufen, die haben später die Stadt neu gebaut und wieder Asphalt aus dem Stein gegraben. Das machte sie berühmt.«

      Die Villen der Ostviertel waren von Gärten umgeben, die Siedlung lag entfernt von den Zeilen der Färber und Schlachter, um nicht deren Gerüchen und dem Lärm ausgesetzt zu sein. Abdi-ashirta scharrte im Laub der Eiche, die schon von den Vorbewohnern gepflanzt worden war und ihre Zweige längst weit über das Dach streckte. »Samranu«, sagte er laut. Er hatte jeden Tag im Schatten des großen Baumes auf ihn, den Großvater und Gelehrten, gewartet. Sein Kopf begann in vergangen Tagen zu leben. Abdi-ashirta dehnte die Schultern. »Nur die Alten sehen die Bilder aus der Kindheit und Menschen vor dem Tod. Beides aber bin ich nicht!«, sagte er halblaut in Richtung des Baumes. »Ich bin der Admiral der Stadt Zor vor Großer Fahrt!« Er lachte über seine Worte. Dann stieg er zurück in die Luke.

      Im geräumigen, kühlen Hausraum öffnete er die alte Seeamtstruhe und rollte einen Papyrus über den Tisch: Die bekannte Welt, gezeichnet vom Großvater und ihm hinterlassen. Mit dem Finger zog er die sidonischen Handelswege nach. Kaum merkbar ritzte sein Nagel eine Spur von den Säulen des Melkart nach Mitternacht in das Kalte Meer. Hier hatten sich die Hethiter unter seinen Männern auf die Planken geworfen und ihre Götter um Hilfe angefleht, als eine Haut das dunkle Wasser überzog. Er beachtete die Linien nicht, die Zor mit den Küsten Asias und Libyens verbanden und verwirrend um die griechischen Welten herum führten. Das waren gewohnte sidonische Wege. Samranu hatte den Papyrus so geschnitten, dass er zur Kugel gebogen werden konnte.

      »Gibt es auf der anderen Hälfte auch Küsten?«, hatte der Junge gefragt.

      »Finde sie!« war die Antwort des Gelehrten gewesen. Der Blick fiel auf Libyen, auf die Lotosblüte,