Küstenlinien brachen hier ab, und sie reichten auch auf der Abendseite kaum zehn Iteru über die Säulen des Melkart hinaus. Das Südliche Haus war leer. Vorsichtig griff er nach den Tontafeln auf dem Kistenboden und breitete sie auf dem Tisch aus. Das letzte Mal hatte er sie an dem seltsamen Tag in den Händen gehalten, als ein dunkler Schatten über die Sonne gekrochen war und der Rat ihn im Hafen von Bursa als Admiral ausgerufen hatte. Ein Binsenstift kam ihm in die Finger, er legte ihn zurück in die Auskerbung der Palette.
»Nurfret«, sagte er und wiederholte den Namen. Er hatte ihr Gesicht mit dem Rohr auf den Ton gezeichnet, so wie auch der Großvater die Tafeln beschrieb, die sidonisches Wissen für die Ewigkeit retten sollten. Das Profil verriet die noch ungeschickte Hand des Kindes. Von ihrer mit Rot und Schwarz gefärbten Gestalt hob sich das mit Gold getönte Gesicht ab, ein Zeichen besonderer Verehrung.
Er dachte daran, wie er in die Berge gelaufen war, nach farbigen Erden zu suchen. Samranu hatte die Frau gebracht, als die Eltern nach Quart-hadascht übersiedeln mussten. Sie diente dem Haus und dem Kind und war dem Großvater Gefährtin. Nurfret, die Witwe eines kemetischen Freundes, mit dem sie am assyrischen Hof gelebt hatte.
»Nurfret stiehlt mir dein Ohr«, hatte der Großvater geklagt, wenn sie Kemet als blühenden Garten besang. Lustig hatten seine Augen dabei geblinzelt.
Nurfret lehrte das Kind die kemetische Volksschrift, noch bevor er im Haus des Lebens die sidonischen Zeichen schrieb. Die Übungstafeln waren längst gebrochen und zu neuen geformt, eine aber hatte die Zeit überdauert, auf sie hatte er den Skarabäus geritzt. Lautzeichen, die der alten Bilderschrift glichen, hatte er besonders gern geübt. Nurfrets Geist führte ihn durch seine Kindheit, ihre Liebe zu Kemet lebte auch in ihm und weckte die Sehnsucht nach diesem Land. Wie sie, sah er in Hathor und Seth keine Wesen, sondern die Eigenschaften, die sie verkörperten.
Er holte acht kleine Tafeln aus der Truhe und lächelte beim Anblick der kemetischen Götter, die seine Fantasie ihn, Nurfrets Beschreibungen folgend, einst zeichnen ließ. Vorsichtig schob er die Tafel des Osiris über den Papyrus, rückte sie zum Großen Fluss am Nordende des Inneren Meeres, das Ziel des ersten Auftrags, den Hir-Rectar ihm erteilt hatte. Hier war der betrunkene Rudermeister an einem dunklen Abend über die Wandung gefallen. Niemand war ihm zu Hilfe geeilt, der Pockennarbige aus Zors Hafenviertel hatte die Peitsche zu oft gebraucht und kaum die Zunge. Der Mann war zum Südufer geschwommen, hatte am Morgen nach einem Boot gerufen und eine ältere Frau zum Schiff gebracht, eine Sidonerin aus Gebal, Magd eines Piraten und vor Jahren an diese Mündung geflohen, lebte sie nun bei den Einheimischen. Hoffnungsvoll hatte sie Abdi-ashirta nach einem Seeweg in den Norden gefragt, doch die Frau hatte nur hohe Berge angedeutet, die über den Wolken weiter wuchsen und aus denen fremde Händler Salz in die befahrbare Welt trugen.
Abdi-ashirta schob Osiris an die Küste Quart-hadaschts. In seinem zweiten Jahr als Admiral hatte Zors Stadtrat ihn beauftragt, im geheimen Kriegshafen herauszufinden, wie es den Siedlern gelungen war, Schiffe an Ketten hoch zu ziehen. Er dachte an Hir-Rectars Enttäuschung, als er berichtete, dass diese Sicherung in Bursa nicht möglich war.
Das Meer hinter den Säulen, das Wasser im Norden von Asias Küsten, all das waren bekannte Welten. Die eilige Botschaft bereits am dritten Tag seiner Rückkehr nach Zor verhieß jedoch einen Auftrag, der keineswegs nach den gewohnten Routen verlangte. Noch einmal griff er nach Osiris, dessen Haut verblasst war, obwohl er saftiges Gras gerissen hatte.
Eines Abends hatte Nurfret die Pilgerfahrt nach Abdju besungen. Aus ihrem Mund klang es, als trieben die Priester tatsächlich im Boot über den Hapi und vollführten nicht die symbolische Handlung. Er setzte den grünblassen Osiris auf Zor und rückte den falkenköpfigen Horus daneben, der das Innere Meer vor der Stadt füllte. Dem Beschützer der Könige folgte Hathor, die kuhköpfige Himmelsgöttin, die Sonne zwischen ihren Hörnern lag über der Lotosblüte. Er fasste die Tafel, auf die er damals eine von der Schläfe geschnittene Locke geklebt hatte. Das war Chon, Mondgott und Kind. Ptah, Schutzgott von Menfe, der den Kreis bedeckte, das Zeichen der Stadt. Die Augen hatte er aus der missglückten Schüssel eines Handwerkers gebrochen, die Glasscherben steckten auch jetzt noch im Ton.
Von einer besonders großen Tafel schaute ihn Amun-Re an, diesen wichtigen Gott hatte er als Riesen geritzt. Mit ihm war er am Ende der bekannten Welt angekommen, in Nub, dem Goldland, und am Ausgang des Lazurwassers. Aus der Kiste folgten Ma‘at, die Göttin der Ordnung, die für Nurfret wichtig gewesen war, wenn er seine Schreibgeräte nicht weggeräumt hatte und Seth, Gott des Gegenteils. »Du bist sein bester Diener«, hatte sie ihn manchmal getadelt. Auch Sobek, das Krokodil und Anubis, der Schakal, kamen auf Samranus Weltkarte. Wie vertraut die kemetischen Bilder waren!
Die Götterlinie endete weit im Süden, in einer Welt, die des Großvaters Hand nicht gezeichnet hatte. »Nein«, dachte er, »zu diesem Ziel gibt es keinen Weg. Noch nicht.«
Er betrachtete die ungeschickten Zeichnungen seiner Kindheit, sah das Bild der Kemetin, die so stolz gewesen war, dass die Frau eines ihren Lieblingsgott Aton anbetenden Pharaos den gleichen Namen trug wie sie. Noch einmal überblickte er seine Götterlinie, die mit Ma‘at die bekannte Welt verließ. Anubis, der Hundegott, bedeckte ein leeres Land, das nicht einmal in den Fantasien von Zors Erdzeichnern vorkam.
»Dorthin nicht!« rief Abdi-ashirta dem Gott der Unterwelt zu. »Der Süden ist ein sidonischer Traum. Die Jungen, die heute Sklavenjäger spielen, werden vielleicht die Schiffe in ein südliches Meer steuern, wenn die Götter Kemets Herrschern erlauben, das Lazurwasser zu öffnen.« Er packte die Bilder in die Truhe zurück. »Wie oft haben wir den Gaslonim getanzt. Aber einmal haben die Räuber die Wächter besiegt.«
Der Abend kam, und er stieg noch einmal auf das Dach seines Hauses, um das nun dunkle Zor zu betrachten. Die Schiffsmasten hoben sich nicht vom Nachthimmel ab, die Pollerfackeln zogen eine Lichtspur zur Werft, in der auch sein Schiff ruhte. Manchmal vertrieb der Wind die Wolken vom halben Mond, dessen mattes Licht die Gestalt des Admirals auf dem Lehm nachbildete. Er stellte sich neben den Rauchschacht.
»Wenn dein Kopf bei diesem Himmelsstand Chons zum Dachrand reicht, wirst du auf ein Schiff gehen.« Wie heute hatte der Mond eine Handbreit über der Zeder im Garten eines Ratsoffiziers gestanden. Samranu hatte die Götter gern angerufen. Ihre sidonischen Namen trug er selten im Mund.
Der Schatten hatte den Kopf verloren, da war Abdi-ashirta kaum zwölf Jahre und schneller gewachsen als die Gefährten der Kindheit, nach noch einmal zwölf Jahren war er Schiffsführer, die gleiche Zeitspanne später, fast auf den Tag genau, wurde er zum Admiral ernannt. Seitdem war von diesem Zyklus, der sein Leben so stark bestimmte, noch nicht die Hälfte vergangen.
Abdi-ashirta schaute auf die vertrauten Umrisse der Nachbarhäuser. Der Mann, der wichtige Worte stets zweimal sagte, schloss die Luken. Auf der anderen Seite schrie die Griechin, die Sprachkundige für den Rat, nach ihrem Hund, der auch an diesem Abend nicht heim kam. Hier hatte einst Talaya gewohnt. Östlich davon erahnte er das rissige Haus mit den oft auch über den Tag geschlossenen Läden, bewohnt von der Witwe eines Segelmeisters, der zweimal mit ihm hinter die Säulen gefahren war. Sie lebte für ihre kemetische Falbkatze.
Am Südhafen setzten sich Lichtpunkte in Bewegung und wanderten auf der Zedernstraße in Richtung der Berge. Eine verspätete Kolonne, die Holz für den Schiffsbau aus dem Libanon herbeigetragen hatte, zog in die Schlafbaracken vor den Steinhängen. Selbst im Dämmerlicht konnte sein Blick den Schutzwall der Südstadt bestimmen und das Viertel der Zimmerleute mit dem großen städtischen Lagerplatz. Er liebte Zor, liebte die Unruhe des Hafens, die Farben der Märkte und die Herbergen in den Vorstädten. Oft hatte er in Bitta-rapis Schankstube nach Großer Fahrt seine Vertrauten verabschiedet.
Der Abend wurde zur Nacht, und Zor verstummte. Auf dem Damm nach Bursa blinkten die Fackellichter als etwas ewig Vertrautes. Gebetsgesang aus der Parallelgasse störte die dunkle Zeit, das gewohnte Ritual eines Notars, der Gott Melkart um Beistand für seine Geschäfte bat.
Der Wind aus den Bergen lebte auf und starb, Schleier zogen vor die Sterne, gaben sie wieder frei und verbargen das Licht von neuem. Die Stimme des Meeres versprach Stunden der Ruhe. Kein Fuß trat die Platten des besseren Viertels, der Rat schickte seine Wachen nicht durch die Stadt. Die Seefahrt hatte Wohlstand