Stephan

Jakob


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summierte es sich.

      Und dann, ab jetzt, hatte er wirklich Ferien. Fünf Wochen Sommer, baden mit Freunden, herumhängen und ins Ferienlager fahren. Herrlich!

      In den Winterferien allerdings durfte er nur eine Woche in seiner Kaufhalle arbeiten, mehr war nicht erlaubt.

      Aber die Schule hatte für die Jüngeren Ferienspiele veranstaltet, und so konnte Jakob zwei Wochen zusätzlich als Ferienhelfer mitmachen. Eigentlich durfte er das gar nicht mehr, doch was der Eine weiß, macht den Anderen nicht heiß. Und so hatte Jakob mehr Geld verdient als mancher andere. Obwohl die Schule längst nicht so gut bezahlte wie der Handel, dachte sich Jakob: ‚Kleinvieh macht auch Mist.’ Ihm konnte es nur recht sein: war beschäftigt, von zu Hause raus, kam auf diese Weise kostenlos in den Zoo, ins Theater und hier und da hin. Das ging jedes Jahr so. In den Ferien wurde doppelt verdient und Spaß gab’s obendrein. Über Langeweile konnte er sich wirklich nicht beklagen.

       Aber Jakob redet nicht.

      Weiß Bescheid. Egal, ob das wen wundert.

       Wenn Jakob reden würde,

      verknüpfte sich Liebe mit Trauer und Tragik

      Denn da war etwas, was er das erste Mal erlebte, was ihn lenkte.

      Das Mädel kam mit einer Anmut daher, auf die sein ganzes Körperorchester anschlug. Obwohl die Sache mit den Mädchen zuvor auch schon so seine Besonderheit hatte: Ob Kindergartenzeit oder Pubertät, Jakob ließ sich gerne von Mädchen leiten. Auch richtig anleiten. Sie brauchten ihm bloß kundtun, was sie bei ihren Doktorspielchen sehen oder ausprobieren wollten, er zeigte sich ihnen gegenüber höflich.

      Außerdem war er selbst ein bisschen neugierig.

      Die Mädchen waren so seltsam anders. Und Jakob, der gelehrig und wissenshungrig war, konnte ihnen kaum etwas abschlagen.

      Später aber, etwa ab der siebenten Klasse, konnte er ihnen neben kleinen, üblichen Knutschereien – wozu waren Klassenfahrten und Schuldiskos denn sonst gut? – jedoch bereits ein richtig treuer Freund sein.

      Daran lag ihm viel.

      Eigentlich fand er nichts wichtiger.

      So war es denn auch mit seiner ersten Jugendliebe, einer Wochenend- und Ferienbeziehung. Selina lebte mit Eltern, Schwestern und dem Rest der Verwandtschaft im selben Ort, in dem seine Familie ihren Garten hatte. Wo er quasi jede freie Minute verbrachte. Bis zum Ende der Neunten.

      Gerade fingen wieder einmal die Sommerferien an und strahlend blau war der Himmel vor Verheißung. Da aber: Plötzlich stand ein Umzugswagen vor genau dem Wohnblock, in dem er ein- und ausgegangen war.

      „Mein Vater hat die Bewerbung seit langem laufen. Jetzt hat er die Stelle in Thüringen ganz kurzfristig bekommen und muss sie in ein paar Tagen schon antreten.“

      „Und? Was wird aus uns?“

      Jakob wusste zwar von sich, dass er manches erst etwas spät mitbekam, aber das nun wollte er keinesfalls wahrhaben. Er stieß ein paar Kieselsteine mit dem Fuß weg. Und hielt die Hände in die Taschen versenkt.

      „Ich glaub einfach nicht, dass eine Brieffreundschaft ausreicht.“

      „Lass es uns versuchen. Wir reden nochmal. In ein paar Tagen kommen wir sowieso wieder und holen die restlichen Sachen nach.“

      Jakob stand allein da. Wie vor den Kopf gestoßen. Dass ein Schornsteinfeger so kurzfristig eine neue Stelle bekommen kann … Er begriff es nicht. Die Tränen ließen sich nur schwer verbergen, wo sie doch schon im LKW saß, sein Mädchen, und ihm hinter dem Fenster bloß noch winkte.

      Die Enttäuschung war groß. Zu groß. Lange Zeit war es still um ihn.

      Sieben Wochen. Das letzte Wochenende der Sommerferien war es denn, da machte er die Bekanntschaft eines blonden, hübschen Mädchens in seinem Alter. Sie war so ganz anders als die Mädchen, die er bis dahin kennengelernt hatte. Sandra war viel reifer in ihrem Denken, reifer in dem, was sie wie sagte, reifer in der Art, wie sie sich bewegte, wie sie sich gab, auch reifer als die Mädchen seiner Klasse.

      Und Jakob?

      Der schwebte mit seinen 16 Jahren im siebten Himmel oder sonst wo. Ein geradezu breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er nutzte jede erdenkliche Ausrede, um zu ihr ins Nachbardorf zu gelangen.

      Das ging ein halbes Jahr so. Ein glückliches halbes Jahr! Man sah sie nur zu zweit: in den Dorfdiskos, im Freibad, im Steinbruch beim Baden und bei ihr zu Hause, wenn er sie zum Spaziergang abholte. Was sie nicht alles wusste! Jakob war fasziniert. Ihm schien, als hätte sie Tag und Nacht nichts anderes getan als gelesen. Die schönen Momente für sie beide schätzte Jakob, er hielt sie einfach für unerschöpflich.

      Und doch. Eines Tages öffnete nicht sie, sondern ihr Vater das schwere Hoftor. Jakob runzelte die Stirn. Wieso nicht sie, wie sonst immer? Er sah sich überall um. Wieso lugte sie nicht erwartend hervor, sie wusste doch, dass er kommen würde.

      Aber er sollte sie nie wieder sehen.

      Das Schicksal hatte sich von grausamer Härte gezeigt. Sandra verstarb im Frühjahr 1983. Es war Leukämie. Hatten sie ihm danach erzählt. Nichts, aber auch gar nichts hatte er gemerkt. Stand wieder ganz allein da.

      Mitten auf der Dorfstraße vor dem großen Hoftor. Musste sich immer wieder vergewissern …, nein, nein – doch! – quietschte das Hoftor. Sandra war plötzlich nicht mehr. Er konnte es nicht fassen. Ahnte auch in keiner Weise, wie sehr sich das Mädchen schon in ihm festgesetzt hatte. Ihm fiel niemals auf, wie traurig ihm die kleine Schwester hinterher schaute, während er leise in sich hineinweinend zum Nachbardorf zurücktrottete.

      Jakob sah es nicht.

      Wo gerade die Welt einstürzte! Nichts mehr wie früher war. Jakob hatte nichts geahnt, wer hätte sich ausrechnen können, welche Härten von einer Minute zur anderen auf einen Mann zukommen können. Da war alles nur noch Hohlraum und auch er, Jakob, war leer. Von jetzt an zog er sich in sich selbst zurück. Lehnte sämtliche Anfragen von Schulkameradinnen ab, mit ihnen zu gehen. Irgendwie war er für die Außenwelt nicht mehr erreichbar, es kam ohnehin nichts mehr bei ihm an. Darüber hinaus war ihm zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht klar, wie lange ein Mann, wie lange er, Jakob, um seine Liebe zu trauern vermochte, es einfach musste. Womit soll man einen solchen Hohlraum füllen?

      Das legte sich auf alles, beeinflusste wie ein Schema sämtliches Tun. Die Prüfungen der Zehnten hatte er geradeso mit drei Komma vier geschafft. Und als seine Klasse auf Abschlussfahrt ging, fuhr er zwar mit, doch blieb dem bunten Treiben weitestgehend fern. Er, Jakob, trauerte. Tief und ehrlich. Und ohne, dass diese Abgrundtiefe auch nur irgendein Mensch von ihm erfahren hatte oder hätte erfassen können. Da war kein Ende abzusehen. Egal, was kam.

      Seither steckte in jeder der nachfolgenden Frauen ein kleines Stück von diesem, seinem Mädchen. Möglicherweise war es das, was Jakob in späteren Frauen beständig suchte. Vielleicht etwas von dieser Reife, mit Bestimmtheit aber irgendetwas von ihr.

       Aber Jakob redet nicht.

      Stößt sich an der Leere, Leere, Leere. Und lehrt es sich ohne Ende.

       Wenn Jakob reden würde,

      kämen manch Zufall, Anfall und Abfall ins Spiel

      Denn das sollte er bald gewohnt werden.

      Dass wie von selbst auf ihn zukam, was ihn prägte.

      Erstmal hatte Jakob mit der Trauer zu tun. Das ging auch noch so, als er in Leipzig seine Lehre zum Dachdecker antrat. Die theoretische Ausbildung fand in der „Querbreite“, einer Straße, in der sich die Berufsschule befindet, statt. Die Praxis im Betrieb. Als Einstiegsgeschenk bekam er von seinen Eltern das Werkzeug: einen Spitz- und einen Schieferhammer, eine Rötelzange, einen Zollstock, ein Beil, eine Axt, sowie einen Gürtel