vor sechs Uhr nachmittags. Und es herrschte noch immer finstere Nacht! Das Gewitter zog zwar ab, dennoch schien sich die massive Wolkendecke hartnäckig halten zu wollen.
Ich stieg aus dem Sprinter, rutschte auf glitschigem Moos aus und schlug der Länge nach hin. „Prima“, dachte ich und raffte mich auf. „Wenn es dicke kommt, dann richtig!“ Immerhin hatte ich mir nichts getan. Im Widerschein der vereinzelten Blitze vermochte ich meine Umgebung nur schemenhaft wahrzunehmen. Ich schaute zunächst nach der Batterie. Die Klemmen saßen fest auf den Polen. Für jede weitere Ursachenforschung fehlte mir das fachliche Wissen. Also ließ ich die Hände vom Motorraum und sah mich um.
Ich steckte nicht im Bach. Von dem war weit und breit nichts zu entdecken. Das beruhigte mich ein wenig. Die Straße konnte ich von hier aus allerdings auch nicht erkennen. Was das eben so positive Gefühl relativierte.
Ich folgte dem Weg, den meine Räder in den Boden gefräst hatten, zurück. Nach gefühlten zwanzig Metern blieb ich ratlos stehen. Keine Straße weit und breit. Wie war der Wagen auf die kleine Lichtung gekommen, auf der er jetzt stand? Wieso war ich nicht mit einem Felsen oder Baum kollidiert? Ich war nicht abgebogen. Hatte stets den Weg vor Augen gehabt. Nicht gerade deutlich. Aber doch so, dass ich mir sicher sein durfte …
Die Erkenntnis, die ich in diesem Augenblick gewann, durchfloss mich wie ein Stromschlag: Die Spuren meines Sprinters endeten abrupt an einem wilden Brombeerdickicht mit angrenzendem, undurchdringlichem Unterholz! Ein paar Meter dahinter erhob sich ein hoher, dichter Fichtenbestand, der noch vor wenigen Jahrzehnten eine Schonung gewesen sein mochte. Keine Chance, sich von dort aus eine Schneise zu bahnen. Nicht einmal mit einem Panzer. Schon gar nicht mit einem UPS-Mercedes-Sprinter. Und – das kam erschwerend hinzu – von einer Schneise im eigentlichen Sinn gab es auch nicht die leiseste Andeutung …
Ich starrte auf die Reifenspuren, derweil meine Lampe zunehmend schwächer strahlte. Um alle Eventualitäten auszuschließen (ich hätte es ja auch mit frischen Abdrücken eines Forstfahrzeugs zu tun haben können), folgte ich ihnen zurück in Fahrtrichtung und achtete darauf, nicht deren Verlauf aus den Augen zu verlieren. Als ich wenig später auf das Heck meines Sprinters stieß, war ich der Verzweiflung nahe. Was in aller Welt war geschehen? Wie kam ich hierher? Und wo, in des Teufels Namen, war die verdammte Mühltalstraße?
Mit dem letzten Licht der Lampe betrachtete ich den Boden vor dem Fahrzeug. Der Waldboden war unberührt. Keine Reifenspuren.
Ich war völlig durchnässt und zitterte. Ob vor Kälte, Angst oder Verzweiflung, weiß ich im Nachhinein nicht zu sagen. Wahrscheinlich war es ein Konglomerat aus allen drei Empfindungen. Obendrein stand ich nun vollends im Dunkeln. Die Lampe hatte ihren Geist aufgegeben.
Im Fahrzeug war es zwar nicht warm, aber ich fühlte mich hier doch wohler als draußen. Was nun tun? Wie sollte es weitergehen? Mir fiel mein Handy ein. Ich öffnete das Handschuhfach und tastete nach ihm. Fand es und wählte die Nummer der Firma. Kein Netz! Auch das noch. Vielleicht befand ich mich in einem Funkloch, oder das Gewitter hatte einen der Mobilfunkmasten lahmgelegt. Ich hoffte auf ersteres, verspürte jedoch wenig Lust, zu Fuß durch den Wald zu irren in der Hoffnung, irgendwo eine Verbindung zu bekommen. Wahrscheinlich hätte ich nicht wieder zum Sprinter zurückgefunden.
Wo war diese verfluchte Straße? Wieso stand ich mitten im Wald? Ja und – weshalb hatte ich anfangs das Gefühl gehabt, der Sprinter würde schief stehen? Er stand doch völlig gerade!
Es hatte keinen Sinn, mir diese Fragen zu stellen; es gab hier niemanden, der sie mir beantworten konnte. Mit Logik kam ich nicht weiter. Sie war angesichts der soeben gemachten Feststellungen wenig hilfreich. Andere Theorien jedoch ins Kalkül zu ziehen, fiel mir erst recht nicht ein. Mein Verstand – damals hatte ich noch welchen – sträubte sich gegen jedwede utopische Argumentation, bevor sie sich in meinem Hirn manifestieren konnte. Stattdessen beschäftigte sich letzteres mit pragmatischeren Überlegungen: Ich musste aus den durchnässten Klamotten raus. Je eher desto besser. Bevor ich mir eine Lungenentzündung holte. Ich hatte zwar keine anderen, dafür aber eine alte Decke, in die ich mich wickelte, nachdem ich mich ausgezogen hatte.
Allmählich wurde mir warm. Der Gewitterguss war in einen leichten Landregen übergegangen, der einschläfernd wirkte. Ich fand mich gedanklich damit ab, hier die Nacht verbringen zu müssen. Wenn der Morgen graute, würde ich weitersehen. Es blieb mir ja eh nichts übrig …
II
„Es ist nicht dein Job. Und auch nicht meine Mutter. Und schon gar nicht diese beschissene Bruchbude hier!“ Nadine erhob sich derart abrupt vom Frühstückstisch, dass ihr Stuhl umkippte. Sie gab ihm einen Tritt, dann stellte sie ihn wieder auf die Füße. Allerdings mit allem Nachdruck.
„Ja“, knurrte ich. „Poltre nur rum. Dass die da unten auch was von haben.“
„Is’ mir scheißegal“, sagte sie etwas ruhiger und wandte sich dem Geschirrspüler zu.
„Was is’ dann der Grund? Etwa ich?“
Sie fuhr herum. „Was glaubst du wohl?“
Ein paar Sekunden lang überlegte ich, ob es sinnvoll sei, mit ihr zu streiten. Ach was, es würde nur ein Wort das andere ergeben. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Er bedeutete Krieg. Und sie würde diesen Krieg gewinnen. Wie immer.
Ich stand auf und ging zur Küchentür.
„Wo willst du hin?“
„Ins Bad.“
„Ziehst du wieder den Schwanz ein, statt endlich mal Farbe zu bekennen? Wann wachst du eigentlich auf aus deiner Traumwelt? Wann kann man mal vernünftig mit dir reden?“
Ich antwortete nicht, zog die Badezimmertür hinter mir zu und schob den Riegel vor. Sie donnerte mit den Fäusten gegen die Füllung. „Du Ignorant! – Hey, aufgewacht! Hallo! Is’ mit Ihnen alles okay da drin?“
Und ich wachte auf. Sicherlich infolge des Lärms. Vielleicht aber auch, weil Nadine mich plötzlich siezte. Ich blinzelte in die Helligkeit. Einen Moment später wusste ich, wo ich war. Ich drehte den Kopf nach links, aber das Gesicht hinter der Seitenscheibe verschwand zu schnell, um mich dessen Züge erkennen zu lassen. Die Decke war verrutscht. Ich zog sie empor und öffnete die Tür.
„Mann, ich hab echt gedacht, Sie sann tot. Hierher, Harris, Fuß!“ Sie nahm ihren Hund an die Leine, wendete sich dann wieder mir zu. „Alter, ich hab vielleicht gegen die Türe gehämmert. Mir tun noch die Hände weh. Und Harris hat gekläfft, was das Zeug hielt. Hamm Sie sich verfahr’n oder so?“
„Ja“, sagte ich, noch nicht recht bei Sinnen. „Ja, so könnte man’s nennen.“
„So könnte man’s?“, lachte sie. „Sie wissen’s also net genau. Alter, Sie hamm geratzt wie ’n Bär. Hamm Sie sich irgendwas reingezogen gestern Abend?“
„Was – reingezogen?“
„Hey, Sie wissen schon.“ Sie fuhr sich mit dem Rücken des linken Zeigefingers an der Nase entlang.
„Ah, eh – nein, nein, ich habe mir nichts – reingezogen. Wer, wer sind Sie?“
„Ich bin Patty“, sagte sie. „Und das hier ist Harris.“
Wie auf Kommando begann der Hund wieder zu kläffen.
„Mein Name ist Albers.“
„Aus, Harris! Platz!“ Der Köter legte sich gehorsam hin, hechelte und wedelte mit dem Schwanz, während er mich fixierte.
„Albers? Komischer Vorname.“
„Mein Familienname“, sagte ich. „Mein Vorname ist Walter.“
„Walter?“ Sie legte den Kopf zur Seite und schaute mir ins Gesicht, als ob ich einen Witz gerissen und sie die Pointe nicht verstanden hätte. „So sehn Sie gar net aus.“
„Was denken Sie“, fragte ich amüsiert, „wie jemand aussehen müsste, der Walter heißt?“
„Na