kommend einfach so im Wald rumsteht.“ Und flüsternd setzte sie hinzu: „Mello is’ ganz harmlos, es sei denn, dass er denkt, man würde ihn verarschen woll’n. Also überlegen Sie, was Sie sagen.“
Na toll, dachte ich, während ich eine verblichene, doch wenigstens saubere, graue Freizeithose und ein ebenso farbenfrohes T-Shirt aus dem Beutel zog – Unterwäsche war nicht dabei – und mir diesen Mello nebenbei betrachtete. Er war, wie seine Schwester, keine Schönheit, um es gelinde auszudrücken. Mit seinem Bullterrier-Gesicht, der plattgedrückten Nase und dem leicht vorgeschobenen Unterkiefer, vermittelte er keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Auch schien er von Ordnung und Sauberkeit nicht allzu viel zu halten. Insgeheim vermutete ich eine heimliche, Jahrzehnte zurückliegende, Liaison seiner Vorfahren mit denen des allerliebsten Harris.
So schmuddelig er auch aussah – auf ein Accessoire schien er stolz zu sein, und das war seine auffällige Gürtelschnalle, über welche seine Linke liebevoll strich: Ein handtellergroßes Oval mit ineinander verschlungenen Schlangenreliefs aus matter Bronze. Die tiefer gelegenen Stellen schimmerten wie schwarzer Onyx.
„Wenn Sie soweit sann, können wir los“, sagte Patty und setzte schmunzelnd hinzu: „Den Transporter müssen Sie allerdings hierlassen.“
„Kann ihn mir ja auch schlecht untern Arm klemmen“.
Ich hatte mich „in Schale“ geworfen und stieg aus. „Eigentlich müsste ich hierbleiben. Ich hab da jede Menge Pakete drin, und wenn jemand kommt und den Sprinter ausräumt, kann ich mich frischmachen.“
„Dann schließen Sie ihn doch ab.“
Ich musste angesichts ihrer Naivität lachen. „Das werde ich auch, aber wenn ihn jemand findet, hat er alle Zeit der Welt, ihn aufzubrechen und leerzuräumen.“
„Was ist denn so Wertvolles in den Paketen?“
„Keine Ahnung, ich liefre nur aus. Jedenfalls nichts, das wir nicht befördern dürften. Aber es geht ums Prinzip. Und wenn da nur Altpapier drin wäre – ich bin meinen Job los, wenn am Ende was fehlt.“ Und still bei mir dachte ich, dass mein Job wohl schon jetzt keinen Pfifferling mehr wert war.
„Wer sollte hier schon herkommen?“
Ich nahm meine Unterlippe zwischen die Zähne, zog die Brauen empor und sah sie mit schiefgehaltenen Kopf fragend an. Sie kam jedoch nicht auf das Naheliegende.
„Was denn?“, fragte sie.
„Na was wohl. Sie haben doch auch hierher gefunden.“
„Oh“, lachte sie. „Das lag nur an Harris. Der hatte wohl ’n Reh oder so was aufgescheucht und ist ihm nach. Ich kam kaum hinterher. Na, und dann standen wir vor Ihrem Fluggerät.“
„Fluggerät?“
„Wenn das Ding …“, sie zeigte auf den Sprinter, „… net fliegen kann, wie sann Sie dann hier gelandet? Oder hat Sie ’n Hubschrauber abgesetzt?“
Ich lächelte gequält. „Die Frage haben wir bereits unbeantwortet bleiben lassen müssen. Denken Sie, ich habe inzwischen eine Erklärung dafür? Sagen Sie mir lieber, wo die Mühlenstraße ist.“
Sie deutete über die Schulter hinweg schräg hinter sich, ohne den Blick von mir zu lassen. „Irgendwo dort hinten. Is aber ’n ganzes Stück weg.“
Ich folgte ihrer Geste und schüttelte gedankenverloren den Kopf.
„Na“, meinte sie, „vielleicht klärt sich ja später alles auf. Hierbleiben können Sie jedenfalls net.“
„Nein“, gab ich zu. „Warten Sie noch ’ne Minute, ja? Mir ist da gerade ’ne Idee gekommen.“
Ich riss ein Blatt aus meinem Notizblock, schrieb ein paar Zeilen darauf und heftete den Zettel gut sichtbar an die innere Seite der Frontscheibe. Dann kramte ich meine nassen Sachen zusammen, steckte Handy und Brieftasche ein und verschloss die Türen.
Patty trat näher an das Fahrzeug heran und reckte den Kopf. „Nicht berühren – Polizei ist informiert!“, las sie und ließ ihr allerliebstes Glucksen hören. „Alter Schwede! Wenn die Karre jetzt jemand findet, macht er bestimmt ’nen großen Bogen drum rum.“
Ich runzelte die Stirn. „Haben Sie ’ne bessre Idee?“
Patty wurde schnell wieder ernst. Nur ein verschmitztes Lächeln blieb. „Klar. Tarnung! Doch dafür ist die Kiste zu groß. Wir müssten den halben Wald abholzen.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Komm, Harris, machen wir, dass wir heimkommen. Damit wir dem Onkel seine Sachen trocken kriegen.“
Seufzend setzte ich mich in Bewegung, gefolgt von dem Bullterriergesicht, dem bisher noch kein Wort über die Lefzen, pardon, Lippen, gekommen war.
„Wenn wir in Ihrer Mühle sind, rufe ich die Firma an“, sprach ich gegen Pattys Rücken und tastete nach dem Handy. „Die werden schon wissen, was zu tun ist. Es sei denn, ich kriege noch unterwegs ein Netz.“
„Wir hamm kein Telefon“, knurrte Mello hinter mir.
Ah, dachte ich, sprechen kann er auch. Dann stutzte ich. „Sie haben kein Telefon?“
„Brauch ’n mar nich.“
„Auch kein Handy?“
„Nee.“
Einen Augenblick lang war ich sprachlos, während ich weiterging. Dann kam mir eine Erleuchtung: „Oh, ich weiß. Sie kommunizieren lediglich übers Internet per Mail und so. Okay, geht natürlich auch. Dennoch ist es verwunderlich, dass …“
„Hammar ooch nich“, fiel mir dieses Unikum ins Wort.
„Ach …“ Wieder war ich sprachlos, dann kratzte ich den Rest logischen Verstandes hervor, der noch in mir schlummerte. „Aber die Reservierungen beispielsweise. Wie sollen die funktionieren? Etwa nur durch Briefpost?“
Mello schwieg. Er schien seine Tagesration an Worten für heute aufgebraucht zu haben. Statt seiner fragte Patty, ohne sich umzudrehen: „Welche Reservierungen?“
„Na, Sie sprachen doch von einer Mühle. Gibt es da denn keinen Gaststättenbetrieb und keine Übernachtungsmöglichkeiten wie in vielen anderen Mühlen auch?“
„Ah, jetzt versteh ich“, lachte Patty und ich atmete auf. „Sie meinen die Gastwirtschaften im Mühltal.“
„Ja. Klar.“
„Da muss ich Sie enttäuschen. Mit denen haben wir nichts zu tun.“
Zu früh aufgeatmet, Walter!
„Ich dachte, Sie wären in einer der Mühlen angestellt, und …“
„Wir sann net angestellt. Die Mühle gehört uns selbst. Sie werden sie gleich sehen. Ist net mehr weit!“
Ich beschloss, es dem stumpfsinnig hinter mir her trottenden Mello gleichzutun und zu schweigen. Mir wären auch keine Fragen mehr eingefallen, auf die ich befriedigende Antworten hätte erhalten können.
Auf unserem Weg durch den Forst berührten wir weder Straßen noch regelrechte Wege. Nur ausgetretene Pfade und mitunter kleine Lichtungen. Ich blieb meinem Vorsatz treu und äußerte mich nicht dazu. Sicherlich handelte es sich um eine Abkürzung, deren Richtung der Hund vorgab. Und der sollte ja nun weit davon entfernt sein, sich zu verlaufen. Selbst wenn ihm, wie sich Patty ausdrücken würde, „ein interessantes Wild“ in die Quere käme.
Apropos: weit entfernt. Ich traute weder Patty noch Mello zu, etwas mit Einsteins Relativitätstheorie anfangen zu können; deren Prinzip indes schienen beide unterbewusst verinnerlicht zu haben: Es bedeutete noch eine geschlagene halbe Stunde Fußmarsch durch den Wald, bis sich die Worte Pattys „… net mehr weit!“ erfüllten.
Ich weiß nicht, ob die Aufregung der letzten Stunden oder mein leerer Magen schuld waren – mir wurde plötzlich übel. Das Unwohlsein ging jedoch schnell vorüber; innerhalb von Sekunden. Dafür wollten mich meine Beine im Stich lassen. Sie fühlten sich an, als seien sie aus Gummi.