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Kapitel 6: Der auch noch
Tom hatte sich die gesamte restliche Nacht nicht aus seinem Wagen getraut. Und auch am Morgen fand er einfach nicht den Mut, aufzustehen und den anderen in die Augen zu sehen.
Dafür nahm ihm jemand anderes die Entscheidung ab, indem er betont rhythmisch an die Tür klopfte.
Auf dem Weg zur Tür vergewisserte sich Tom drei Mal, ob er auch wirklich, wirklich eine Hose anhatte. Dann erst fasste er an den Türknauf, sah noch mal an sich herunter, ob er auch wirklich eine Hose anhatte, und öffnete.
Vor ihm stand Zoracz und hinter ihm seine geheimnisvolle Begleiterin, wie immer ganz in Rot gekleidet.
Tom hatte mit den beiden bereits vor einigen Wochen Bekanntschaft gemacht, kurz nachdem er die Geisterbahn von Omas Bruder, Großonkel Heinrich, geerbt hatte. Und dieser Zoracz war ein ziemlich übler Zeitgenosse, der Tom die Schreckensfahrt um jeden Preis abluchsen wollte.
»Was machen Sie denn hier?«, stieß Tom überrascht hervor.
»Das Gleiche könnte ich dich fragerrrn«, rollte Zoracz genüsslich in seinem aufgesetzten Akzent.
»Kein R in der zweiten Silbe von fragen«, ließ sich die Frau in Rot vernehmen, aber Zoracz hörte gar nicht hin.
»Ihrr steht auf unserrrem Platz, kleiner Bub«, schnarrte er und machte eine ausladende Geste, die seinen schwarzen Mantel effektvoll aufblähte.
Wie macht der das bloß, dachte Tom, hat der vielleicht immer eine kleine Windmaschine dabei?
»Wir haben diesen Platz am Freitag gemietet und jetzt auch schon aufgebaut«, sagte er stattdessen laut. »Das kann nur ein Missverständnis sein.«
»Gewiss, gewiss, ein Missverstärrrndnis«, entgegnete Zoracz mit breitem Grinsen.
»Zu viele R in Missverständnis«, murmelte die Frau hinter ihm, ohne wirklich damit zu rechnen, dass er auf sie hörte.
Damit hatte sie vermutlich recht, zumindest ließ sich Zoracz nichts anmerken. »Nun, ich muss euch leiderrr bitten, diesen antiquarischen Schrotthaufen zur Seite zu rrrücken, denn just hier beliebe ich, mein Spiegelkabinett aufzubauen, kleiner frecher Mann.«
»Warum denn gerade hier?«, fragte Tom frech. »Der Platz da drüben ist doch anscheinend noch frei.«
»Das ist rrrichtig«, lachte Zoracz. »Aber wenn ich euch achtundvierzig Stunden fürrrchterliche Plackerei bescheren kann, dann will ich das natürrrlich nicht missen. Also muss ich nun den missmutigen Veranstalter holen, oder rrrutscht ihr freiwillig rüber? Oder …«
Zoracz machte eine ganz und gar offensichtliche Pause, die wohl besonders bedeutungsschwanger klingen sollte. Und das tat sie auch. Allerdings war Tom nicht bereit, diesem Fiesling das Gefühl zu geben, dass er ihm Angst einjagen konnte. Den Gefallen wollte er ihm nicht tun.
»Oder was?«, unterbrach ihn Tom forscher, als er sich selbst zugetraut hätte. »Überlegen Sie sich gut, ob Sie mir drohen wollen, Zoracz. Denn das geht garantiert wieder schief, und zwar für Sie.«
Zoracz’ Grinsen sah plötzlich aus, als wäre es eingefroren. »Werrr von uns beiden drrroht denn nun werrrm?«, fragte er mit eisiger Stimme, und bevor die Frau in Rot etwas über zu viele Rs sagen konnte, hatte er einen warnenden Zeigefinger gehoben, der sie davon abhielt.
Tom hielt dem stechenden Blick stand, aber innerlich wurde es ihm doch flau im Magen. Er wollte gerade etwas besonders Markiges erwidern, als ihn ein wohlvertrautes Grollen unterbrach.
»Zoracz. Was willst du hier?«, erklang die Reibeisenstimme von Welf, der urplötzlich aufgetaucht war.
Wie der Blitz war die Frau in Rot sofort zwischen ihn und Zoracz getreten. Sie hob ihre Finger mit den langen, blutroten Fingernägeln, und aus ihrer Kehle drang ein so aggressiver Zischlaut, dass Tom sich wunderte, wie so ein Sound eigentlich aus so einer Frau ertönen konnte.
»Bitte, wirrr wollen doch zivilisierrrt bleiben«, sprach da Zoracz und hob beschwichtigend die Hände.
Welf trat einen Schritt zurück, und auch die Frau entspannte sich wieder.
Dann seufzte Toms Onkel, und Tom bemerkte, dass ihm das Folgende nicht leicht über die Lippen ging: »Hör zu, Zoracz, ich sag das nicht gern, aber es wäre besser, ihr würdet diesen Jahrmarkt ausfallen lassen.«
Zoracz war die Verwunderung deutlich anzusehen. »Was? Warrrum sollten wir …«
»Weil es hier ein echtes Problem gibt«, antwortete Tom. »Wir haben gestern schon den Herrn Barthelmann versucht zu überzeugen, den gesamten Markt abzublasen.«
Zoracz sagte nichts. Für den Moment war er wohl tatsächlich überrascht.
»Der Junge hat recht«, ließ sich Welf wieder vernehmen. »Hier stimmt was ganz und gar nicht. Im Moment gehen wir von einem Pulsar fortis der Stufe 80 aus. Vielleicht 90.«
»Ein was?«, fragte Tom, doch keiner achtete auf ihn.
»Ein Pulsar fortis?«, stieß Zoracz verblüfft hervor und vergaß dabei völlig seinen fremdländischen Akzent. »Das ist … Das ist …«
»Selten«, beendete Welf das Gestammel. »Verdammt selten. Und mächtig. Er ist imstande, Dinge zu levitieren, für die andere einen Kran brauchen.«
Oder einen Zombie, dachte Tom, doch er hütete sich, das laut auszusprechen. Zwar war er sich inzwischen sicher, dass Zoracz ganz genau wusste, wer da außer ihm in der Geisterbahn hauste. Und das war wohl auch der Grund, warum Zoracz schon mehrmals versucht hatte, die Geisterbahn in seinen Besitz zu bringen. Aber wirklich ausgesprochen hatte der Typ noch nichts in der Richtung. Also hielt sich auch Tom zurück und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch der beiden. Er wollte auf keinen Fall irgendetwas verpassen.
»Ein Klopfer, der schwere Objekte bewegt …«, murmelte Zoracz und kraulte sich nachdenklich den Spitzbart. »Ja, in der Tat, dies ist ein denkbar schlechter Ort für einen Jahrmarkt.« Doch dann kehrte das vertraute verschlagene Funkeln in seinen Blick zurück. »Nun, gleichzeitig ist es ein denkbar wunderbarer Ort für mich und meine Attraktion, nicht wahr? Wann hätte ich sonst jemals die Gelegenheit bekommen, ein solches Geschöpf zu … studierrren.«
»Studieren. Klar«, brummte Welf. »War’s das erst mal, oder brauchst du noch was, Zoracz?«
»Oh, unter diesen Umständen bin ich vollauf zufrieden mit dem Platz dort drrrüben in unmittelbarer Narchbarrscharrrft, vielen Dank, ja, ich weiß, viele Rs, meine Liebe, aber dieses Wort konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.«
Dann lachte Zoracz sein etwas zu lautes und etwas zu künstliches Lachen, warf sich das Cape elegant über die Schulter und drehte sich grazil um seine eigene Achse wie ein Balletttänzer.
»Einen schönen Tag allerrrseits!«, rief er und stolzierte von dannen. Seine geheimnisvolle Begleiterin folgte ihm, doch Tom war nicht entgangen, dass sie ihn vorher noch einmal seltsam gemustert hatte.
Was will die denn von mir, warum guckt die mich immer so an?, dachte er und sah fragend zu Welf.
Der zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, vielleicht findet sie dich schnuckelig«, gab er zurück, und Tom sah seinen Onkel groß an.
»Wie hast du … Ich hab das gerade nur gedacht!«, zischte er. »Sag bloß, du kannst …«
»Deine Gedanken hören? Na ja, wenn du sie so laut rausposaunst, ist das keine Kunst«, erklärte Welf in ruhigem Tonfall. »Du musst endlich lernen, die telepathische Verbindung ein- und auszuschalten. Kann manchmal echt peinlich sein.«
»Peinlicher, als nackt vor euch rumzuhampeln?«, stöhnte Tom und spürte förmlich, wie seine Wangen knallrot anliefen.
»Nein«, antwortete Welf trocken.