hob seine unversehrte Hand vor die schreckgeweiteten Augen. Einer unheilvollen Ahnung folgend, riss er plötzlich auch die andere Hand hoch und stellte fest, dass sich auch diese genau dort befand, wo er sie das letzte Mal gesehen hatte: am Handgelenk.
Endlich beruhigte er sich ein wenig, und Tom bemerkte mit zunehmender Erleichterung, dass auch wieder etwas Farbe in das Gesicht des Jungen zurückgekehrt war.
Luca atmete ein paarmal tief durch und sah sich dann um. »Ohne Mist, ich hab so was noch nie erlebt … Dagegen sind alle Horrorfilme wie die Teletubbies.«
Zitternd zog er eine Geldbörse aus der Innentasche seiner Jacke, fischte einen Fünfeuroschein heraus und streckte ihn Tom entgegen. »Da. Du hast gewonnen, Kleiner.«
Tom schüttelte den Kopf. »Ist schon okay, die Fahrt geht auf’s Haus.«
»NEIN«, rief Luca da plötzlich wieder so laut, dass Lena ihn stirnrunzelnd ansah. »Ich … ich will euch nichts schuldig sein. Alle Rechnungen werden beglichen, wir sind quitt. Sag, dass wir quitt sind!«
»Ähm … wir sind … quitt?«, stammelte Tom überfordert und sah, wie der ältere Junge erleichtert aufatmete. »Gut. Das ist gut. Quitt ist gut, keine Schulden bei den … bei den … Dings.«
Er schnaufte noch einmal tief durch und stemmte sich dann auf die nur noch wenig zitternden Beine. »Komm, Lena, ich brauch jetzt eine Cola oder so was.«
»Okay«, nickte sie und sah Tom fragend an. »Sag mal, wir sind aber schon in derselben Geisterbahn gefahren, oder? Also, ich hab von alldem nix mitbekommen, was Luca da erzählt. Die Geister da drin waren alle voll nett zu mir, und der Hamster war sogar voll süß.«
»Hamster«, wiederholte Tom lahm, und Lena lachte. »Na, der knuffeli-gnubbeli Hamster auf dem Sarg in der Kerker-Deko! Oder ist der da nur zufällig reingekrabbelt?«
Sie winkte Tom noch einmal, und ihm war fast so, als hätte sie ihm zugeblinzelt. Aber das konnte auch wegen der Sonne gewesen sein.
Tom hatte eh kaum Zeit, sich darüber mehr als einen halben Gedanken zu machen, denn die Sache mit dem Hamster beschäftigte ihn sehr. Aus gutem Grund.
Kapitel 2: Voll verhamstert
Tom starrte auf den Hamster, und der Hamster starrte zurück. »Das darf doch jetzt echt nicht wahr sein«, murmelte Tom und schaute Hilfe suchend zu Mimi.
Das grünlich schimmernde Geistermädchen war im Dunkel der Geisterbahn sehr gut zu sehen und zuckte mit den durchsichtigen Achseln. Auch Hop-Tep die Mumie, Toms Pflegeonkel Welf der Werwolf und Wombie der Zombie standen um den Sarg in der Kerker-Dekoration herum. Der Zombie starrte wie immer teilnahmslos ins Leere, hatte aber seinen Kuschelhasen Odor so in der Armbeuge platziert, dass der gut sehen konnte. Es fehlte also nur Vlarad der Vampir. Oder anders gesagt: Es fehlte nur der Vampir. Vlarad war ja da, aber eben in Gestalt eines Hamsters.
Es patschte laut durch die Geisterbahn, als Tom sich mit der flachen Hand mitten ins Gesicht schlug und diese dann ganz langsam herunterzog. Er hatte sich diese Geste vor ein paar Wochen angewöhnt und seitdem mehr als genug Gelegenheiten gehabt, sie einzusetzen. Denn irgendwas war ja immer. Und mit einer Geisterbahn voll mit echten Untoten war nicht nur immer was, sondern eben auch immer was ganz Besonderes. Das heutige Besondere saß vor ihnen und blinzelte aus unschuldigen Knopfaugen in die Runde.
»Vlarad hat also zu viel Hamsterblut genossen, wenn ich das richtig deute?«, seufzte Tom, und alle außer Wombie nickten. Natürlich wussten sie alle, dass es für Vlarad nicht so einfach war, immer genug unterschiedliches Blut zur Verfügung zu haben, um nicht zu dem jeweiligen Spendertier zu mutieren. Andererseits klappte es meistens auch ganz gut. Vlarad hatte im Lauf der Jahre ein stattliches Register von Zoohandlungen und Tierparks angelegt, wo er sich mit ausreichend Nahrung versorgen konnte, ohne eines der Tiere zu gefährden. Solange der Vampir sich nur ein paar Milliliter Blut abzapfte, blieb bei den Tieren nichts zurück als die verschwommene Erinnerung an eine hypnotisch-beruhigende Stimme und einen kleinen Piks.
Außerdem forschte der Vampir seit Jahrzehnten an einer veganen Alternative zu Tierblut, aber leider hatte er damit bislang noch keinen wirklichen Durchbruch erzielt – eher im Gegenteil: Nach einer dieser veganen Testphasen überwältigte ihn oft ein kaum zu bremsender Blutdurst. Und wenn sich der sonst so auf Benimm und Anstand versessene Graf nicht mehr im Griff hatte, konnte es gelegentlich passieren, dass er zu viel von einer Tierart erwischte. Und heute war wohl gelegentlich, denn der Hamster vor ihnen war der lebendige Beweis.
»Was machen wir denn jetzt?«, stöhnte Tom.
»Wir könnten ihm ein kleines Cape nähen«, ließ sich Welf vernehmen, und Mimi kicherte. »Au ja, und einen süßen kleinen Gehrock und eine Weste und …«
Tom hob die Hand. »Ich habe – natürlich – nicht gemeint, was wir mit dem Hamster alles Lustiges machen können, sondern wie wir den Vampir zurückbekommen, den wir spätestens dann brauchen, wenn heute Nachmittag viele Leute mit der Geisterbahn fahren und sich kaum vor einem Hamster gruseln werden!«
»Jetzt reg dich doch nicht so auf, Tom. Du hast doch vorhin gesehen, dass wir zur Not auch ohne Vampir ziemlich wirkungsvoll sind, oder?«, antwortete ihm das Geistermädchen und grinste frech.
»Oh ja, das hab ich gesehen, und darüber müssen wir auch noch reden«, gab Tom aufgebracht zurück. »Ihr habt den Typen so erschreckt, dass ich dachte, er sackt zusammen und fließt als Götterspeise aus der Gondel! Der war total weggetreten und hatte sogar vergessen, wie man blinzelt!«
Mimi schob beleidigt die Unterlippe vor. »Du hast gesagt …«
»Mooooment«, rief Tom, »ich hab nicht gesagt: Macht den Heini zu Bibber-Bampf! Ich wollte nur, dass er sich genug gruselt für zwei fuffzich!«
»Was soll’s«, ging Welf unwirsch dazwischen, »hat er sich eben für ein paar Euro mehr gegruselt. Du wolltest ihm die Fahrt ja sogar schenken.«
»Was hätt ich denn bitte auch anderes machen sollen?«, entgegnete Tom. »Guten Tag, Sie hatten gerade Schiss für hundert Euro, also geben Sie mir wenigstens ’nen Zwanni, oder was?«
»Zum Beispiel«, grummelte Welf. »Davon könnten wir die Lieferung mit den neuen Glühlampen bezahlen, die morgen Vormittag hier ankommen sollen.«
Tom stand einen Moment lang der Mund offen, und er wartete, bis seine Kiefer wieder dazu taugten, Laute zu formen.
»Das darf doch jetzt echt nicht wahr sein«, stieß er dann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Der Herr Graf hamstert sich einen, während ihr jemanden fürs Leben traumatisiert, und jetzt bin ich derjenige, der Mist gebaut hat!?«
Das hat niemand von uns so ausgedrückt, junger Freund, vernahm Tom plötzlich direkt in seinem Kopf. Es war Hop-Tep, der gerade telepathisch zu ihm gesprochen hatte, obwohl er direkt vor ihm stand. Und das war auch gut so, denn durch die Bandagen war von der Mumie meistens nur ein undeutliches Genuschel zu verstehen.
Tom seufzte. »Das weiß ich doch.« Er setzte sich neben den Hamster auf den Sarg. Der ägyptische Prinz sprach selten, aber wenn er etwas sagte, dann hatte er erschreckend oft recht. So auch diesmal.
Tom sah das Nagetier nachdenklich an. Das schaute hamsterig zurück. Dann gab er sich einen Ruck, blickte auf und rang sich ein halbes Lächeln ab. »Also gut, was tun wir?«
»Das ist einfach«, antwortete Welf. »Wir warten, bis die Wirkung nachlässt.«
»Und wie lange dauert das?«
»Kommt drauf an, wie viel Hamsterblut Vlarad erwischt hat. Wenn es sozusagen ein kompletter Hamster war, dann verwandelt er sich wohl erst übermorgen Nacht zurück.«
Tom