Johannes Sachslehner

365 Schicksalstage


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       Provozierte sein Publikum: Johann Nestroy. Lithographie von August Prinzhofer, 1846.

      Das Haus ist an diesem Abend „übervoll“, so dass manche Zuschauer im Parterre über die Schranken des Orchesters steigen müssen, um zu ihren Sperrsitzen zu gelangen. Nestroy selbst, der Beneficiant, spielt die Hauptrolle, den selbstgefälligen Herrn von Gundlhuber, einen Rentier; sein kongenialer Partner Wenzel Scholz (1787 – 1857) gibt den Hausmeister Cajetan Balsam. Das Stück basiert auf dem „komischen Gemälde in fünf Rahmen“ Wohnungen zu vermiethen! des Berliner Autors Louis Angely, was Nestroy in der Ankündigung jedoch verschweigt.

      Die Stimmung im Publikum ist zu Beginn der Aufführung noch ausgezeichnet und der erste Akt entwickelt sich zunächst „in seinem Gange ungestört“, ja, man vernimmt sogar „Applaus und Vorrufe“, doch schon während des zweiten Akts setzt heftiges Zischen ein, schließlich werden die „Zeichen des Missfallens so laut und ununterbrochen, dass man von dem zweiten und dritten Akte nur Bruchstücke entnehmen konnte, und das Stück in eigentlicher Bedeutung gar nicht zu Ende gespielt ward. Somit ist denn auch kein Detail über den Inhalt zu erfassen gewesen.“ (Der Telegraph) Der Abend wird zu einem Fiasko, wie es Nestroy noch nicht erlebt hat; seine „ziemlich vorlaute Bemerkung“ am Schluss des Stückes, dass es „im Theater, wie in jedem Hause, Parteyen“ geben müsse, bringt die Kritiker erst recht gegen ihn auf. „Das Stück selbst hat keinen andern Fehler als den, dass es gegeben wurde“, ätzt Moritz Gottlieb Saphir im Humorist, die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode spricht von einem „sinn- und witzlosen Machwerk“.

      Die vernichtende Kritik bewirkt, dass das Stück nur mehr zweimal wiederholt wird und vom Spielplan verschwindet – die moderne Kritik sieht dagegen in dieser Posse Nestroys durchaus ein „Schlüsselstück des Nestroyschen Œuvres“ (W. E. Yates), sein scharfer satirischer Angriff auf das Wiener Spießbürgertum sei vom kleinbürgerlichen Publikum missverstanden worden.

       Kaiserproklamation in Versailles

      Es ist eine pompöse Inszenierung: Preußische Feldregimenter marschieren mit ihren Fahnen vor Schloss Versailles auf, Musikzüge, ein Altar ist im Spiegelsaal von Versailles errichtet worden – Preußens König Wilhelm I. wird zum „Deutschen Kaiser“ proklamiert. Österreich ist damit endgültig „draußen“ aus Deutschland, die „kleindeutsche Lösung“ fix, eine Realität, mit der viele Österreicher in der Folge nicht zurechtkommen. Entsprechend die Kommentare in den österreichischen Zeitungen: „Wir Österreicher“, so heißt es im Leitartikel der Neuen Freien Presse vom 20. Januar 1871, „sehen nicht ohne Schmerz der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit den Triumph Preußens“; man fragt nach den Ursachen der „wunderbaren Expansionskraft“ Preußens und wie es nur kommen konnte, dass Österreich, das „mit seinem Leibe so oft Deutschland gedeckt, mit seiner Brust so oft die gegen Deutschland gerichteten Pfeile aufgefangen, so tausendfältig sein theuerstes Herzblut für Deutschland hingegeben“ habe, nun als der „ewige eigennützige Minderer Deutschlands“ hingestellt werde und der Hohenzollernstaat als dessen „einziger Schutz und Schirm“ erscheine.

      Und es beginnt die Suche nach den Schuldigen und nach Argumenten, die zeigen sollen, dass „wir Österreicher“ doch die „besseren Deutschen“ sind: da ist die „deutschösterreichische Poesie“, da ist das Hofburgtheater, von Joseph II. als „deutsches Nationaltheater“ gegründet, und da sind österreichische Denker, die beigetragen haben zum „Tempel deutscher Geistesgröße“. Es entwickelt sich jenes Dilemma, das bis 1938 seine Wirkkraft entfalten wird: Als die preußisch-faschistische Staatsgewalt zum endgültigen Schlag gegen Österreich ausholt, weigert sich Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, den Schießbefehl zu erteilen – er wolle das Blut der „deutschen Brüder“ nicht vergießen.

       Der Triumph Preußens: die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches. Gemälde von Anton von Werner, Friedrichsruh, Bismarck-Museum.

       Das Begräbnis von Feldmarschall Radetzky

      Kaiser Franz Joseph persönlich ist nach Kleinwetzdorf gekommen, um dem toten Helden die letzte Ehre zu erweisen. „Dem Willen des Allmächtigen hat es gefallen“, so sagte er in einem Armeebefehl am Vortag, „den ältesten Veteranen meiner Armee, ihren sieggekrönten Führer, meinen treuesten Diener, den Feldmarschall Grafen Radetzky aus diesem Leben abzuberufen.“ Dem prunkvollen Leichenzug durch die Wiener Innenstadt zum Stephansdom und der feierlichen Einsegnung des Leichnams folgt nun eine schlichte Zeremonie inmitten der sanften Kuppen des Weinviertels.

      Das Grabmal Feldmarschall Radetzkys in der Gruft am Heldenberg.

      Am Abend hat man den Sarg mit einem „Separattrain“ nach Stockerau gebracht und von hier weiter auf einem Wagen zur Kapelle von Schloss Kleinwetzdorf, seit 1832 die Residenz des Armeelieferanten Joseph Gottfried Pargfrieder (1787 – 1863). Reich geworden durch Lebensmittel-, Schuh- und Stofflieferungen an die kaiserliche Armee, lässt Pargfrieder 1849 im Schlosspark die „Gedenkstätte Heldenberg“ errichten, 1854 kann er mit dem Leichnam des Feldmarschalls Maximilian Freiherr von Wimpffen einen ersten „Helden“ in seiner Ruhmeshalle begrüßen. Pargfrieder, der sich gerne als illegitimer Sohn Kaiser Josephs II. ausgibt, ist Nutznießer eines kleinen Lasters der beiden tapferen Militärs: Er hat für Wimpffen und Radetzky die hohen Spielschulden beglichen und sich dafür die testamentarische Verfügung erbeten, sie nach Ableben auf dem Heldenberg bestatten zu dürfen.

      Nur wenige Menschen folgen dem Sarg Radetzkys, auf dem sein Marschallstab und die Insignien des Goldnen Vlieses liegen: der Kaiser, die einzigen noch lebenden Kinder des Toten, Friederike und Theodor, und der Kammerdiener Karl. Entlang der „Heldenallee“ stehen „zu tausenden die Bauern“, zusammengeströmt aus der Umgebung, um einen Blick auf den 27-jährigen Monarchen zu erhaschen. Sie knien nieder, als der Trauerzug sie passiert; Pargfrieder selbst nimmt als „Hausherr“ die Leiche bei der Säulenhalle in Empfang; gemeinsam mit dem Kaiser begleitet er den Sarg über vierundzwanzig Stufen hinunter in die Gruft zu der Nische, in der Radetzky, der Sieger von Custozza und Novara, zur ewigen Ruhe gebettet wird – fünf Jahre später wird es Pargfrieder selbst sein, der im rotgeblümten seidenen Schlafrock seinen Einzug in die Gruft hält.

       Die Wannseekonferenz

      Berlin, Am Großen Wannsee 56 – 58. Das wenige Monate zuvor eröffnete Gästehaus der SS, verwaltet von der von Sicherheitspolizeichef SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich errichteten Stiftung „Nordhav“, bietet jeden Komfort: „vollkommen neu eingerichtete Besucherzimmer, Geselligkeitsräume wie Musikzimmer, Spielzimmer, große Halle und Wintergarten, Terrasse zum Wannsee, Zentralheizung und fl. Wasser“. Die Übernachtung einschließlich Frühstück ist in dem ehemals dem Kaufmann Friedrich Minoux gehörenden Haus für „auswärtige SS-Führer von Sicherheitspolizei und SD“ für fünf Reichsmark mehr als wohlfeil; wer nicht selbst mit dem Wagen ankommt, kann sich jederzeit vom Bahnhof Wannsee abholen lassen, ein Anruf unter der Nummer 80 57 60 genügt.

      An diesem Januartag geht es im repräsentativen Esszimmer der Villa hoch her, auf Einladung von Reinhard Heydrich hat sich ein illustrer Kreis von fünfzehn Herren aus diversen Reichsministerien und SS-Dienststellen eingefunden, die alle etwas mitzureden haben, wenn es darum geht, wie auf der Einladung so präzise formuliert, die „Endlösung der Judenfrage“ zu erörtern. Den Vorsitz bei der für 12 Uhr angesetzten „Konferenz“, die ursprünglich schon am 9. Dezember 1941 hätte stattfinden sollen, führt Heydrich selbst, auch ein „Ostmärker“ sitzt mit am Tisch und lässt sich kein Wort von dem entgehen, was die Chefs so diskutieren – muss er doch das