seinen besten und glücklichsten Zeiten ging Lance durchs Leben wie ein Koala auf einem Eukalyptusbaum, der an der Luft schnupperte und mit einer zeitlupenartig konzentrierten Wonne an den interessant schmeckenden Blättern des Lebens knabberte. Aber er hatte auch seinen eigenen, ganz persönlichen Katastrophenzustand. Seit die anderen drei ihn kannten, war er einige Male heftig in diesen Abgrund gestürzt. Es hatte irgendetwas mit Furcht und Zwangsvorstellungen zu tun, hatte Tom schon immer vermutet.
Meistens fing es mit irgendeiner Kleinigkeit an. Als es zum Beispiel um die Zerstörung der südamerikanischen Regenwälder ging, hatte es mit einem kurzen Artikel in einer Sonntagszeitung begonnen und sich von da aus zu einem neurotisch unersättlichen Sammeln und Verschlingen aller Zeitungen, Bücher oder Fernsehsendungen gesteigert, in denen das Thema in irgendeiner Weise zur Sprache kam.
Es war sehr ernst geworden. Lances Mutter war außer sich vor Sorge gewesen. Dr. Morgan machte Lance deutlich, dass er lernen musste, sich selbst wirksamer zu steuern. Sicherlich war es richtig, Anteil zu nehmen, aber er musste auswählen, worein er sein Herz steckte. Es war gut, sich einer Sache oder einem Ziel zu verschreiben, hatte ihm der Doktor mit seinem walisischen Akzent geraten, der sich anhörte wie ein Bach, der über ein Kiesbett fließt, aber es musste etwas sein, wozu sein Patient auch einen machbaren, ausgewogenen, beständigen Beitrag leisten konnte. Das Problem bei Lance, wenn die Zwanghaftigkeit ihn richtig gepackt hatte, fuhr er fort, war nicht nur, dass er zu den Typen gehörte, für die das »Glas halb leer« war. Er war sogar ein Typ, für den das »Glas bald ganz leer sein wird, und dann wird es wahrscheinlich zusammen mit allen anderen Gläsern auf der Erde zu Bruch gehen«. Sich selbst steuern, das war es, was er lernen musste.
Lance hatte sich vorgenommen, es zu versuchen. Und meistens war es ihm auch gelungen, das musste man ihm lassen. Trotzdem hatte es seit der Regenwaldaffäre mindestens zwei Gelegenheiten gegeben, bei denen Lance das Steuerrad entglitten war, wie Dr. Morgan es ausgedrückt hätte, und er sich den ersten Stadien desselben steilen Abrutschens in die Depression überlassen hatte.
Wichtig war, frühzeitig etwas dagegen zu tun. Das wussten Tom und Beth.
Als Beth behutsam an die Tür klopfte, tat sich zunächst nichts. Sie trommelte ein wenig härter mit ihren Knöcheln und eine leise Stimme sagte: »Herein, wenn’s sein muss.«
Sie stießen die Zimmertür auf und fanden Lance im Schneidersitz mitten auf seinem Bett. Ausdruckslos starrte er in die Richtung der schweren alten Fallfenster, die an der Vorderseite des Hauses auf die Straße hinausblickten. Neben ihm auf dem Bett stand ein Teller mit Sandwichs, Käse und Tomate, die er offenbar noch nicht angerührt hatte. Er drückte mit beiden Armen ein Kissen gegen seine Brust und sah rundlicher und vertrauter aus als je zuvor. Als die Tür aufging, wendete er nicht den Kopf.
Trotz allem musste Tom lächeln. Das Wichtigste war doch, einfach da zu sein. In der Höhle des Dachses. Hatten Dachse Höhlen? Nein, sie hatten Baue. Aber der Dachs in Der Wind in den Weiden hatte eine Art Höhle im Wald, und daran musste Tom jedes Mal denken, wenn er in Lances Zimmer kam, besonders im Herbst oder Winter. Er liebte Lances Zimmer. In diesem kleinen, gedämpft erleuchteten Raum hatten sie herrliche Zeiten erlebt. Wie hatten sie hier gelacht. Manchmal auch geweint. Ein- oder zweimal hatte Lance laut aus der Sammlung handgeschriebener Gedichte in der blauen Ledermappe vorgelesen, die auf seinem Nachttisch ihren festen Platz hatte. Derek Wilsons Gedichte waren nicht immer einfach zu verstehen, aber seine Worte hatten eine eigentümliche Kraft. Sie schienen singend durch die Luft zu tanzen. Beth war jedes Mal zu Tränen gerührt. Ollys Gesicht wurde zu einer ausdruckslosen Maske, aber dennoch zu einer Maske. Diese Lesungen kamen nicht sehr oft vor, obwohl Lance es liebte, aus dem Werk seines Vaters vorzulesen.
Das Hauptmerkmal des Zimmers waren die unzähligen Bücher darin. Lances Zimmer vermittelte einem die Illusion, als bestünde es aus lauter Büchern, sodass alle Flächen mit Ausnahme der Decke etwas anheimelnd Unebenes an sich hatten. Es sah aus wie in weiches Gestein hineingemeißelt. Jede verfügbare Fläche an den vier orange gestrichenen Wänden war mit hölzernen Regalbrettern auf weißen Metallhalterungen bedeckt. Und da niemand sich bisher die Mühe gemacht hatte, die Regalbretter an den Halterungen festzuschrauben, war es in der Vergangenheit schon häufig zu spektakulären Katastrophen gekommen. In seiner Begeisterung, ein Buch, das er gelesen hatte, herauszuziehen und seinen Freunden zu zeigen, stieß Lance versehentlich mit der Schulter oder dem Ellbogen unter das Ende des Regalbretts, sodass sich eine ganze Reihe von Büchern, hilflos mit den Seiten rudernd wie würdevolle alte Herren, die aus dem Gleichgewicht geraten waren, wasserfallartig auf den Fußboden ergoss. Immer, wenn das passierte, johlten und schrien die Anwesenden und tanzten herum und verstärkten mit Gusto das Chaos, bevor sie mithalfen, die Bücher wieder aufzustellen, und mit ironischer Ernsthaftigkeit nickten, wenn Lance ihnen versicherte, gleich am nächsten Tag nun endlich die Regale richtig anzubringen. Natürlich tat er das nie, und Tom war, wenn auch mit einem leisen Schuldgefühl, froh darüber. Manche Dinge erzeugten eine gewisse Gemütlichkeit, indem sie sich immer wiederholten, und er hatte sowieso einen Hang zum Episodenhaften. Das Leben musste für ihn etwas von einer Seifenoper haben.
Heute jedoch sah es nicht so aus, als ob es einen Anlass zum Gelächter geben würde. Der arme Lance. Es sah wirklich so aus, als ob er wieder einmal unterwegs in seinen tiefsten Keller war.
Mindestens eine Minute lang sagte keiner etwas.
»Mum hat euch angerufen, schätze ich, was?«
»Lance, deine Mum hat angerufen und gefragt, ob wir mal bei dir vorbeischauen könnten. Sie sagte, du wärst ein bisschen niedergeschlagen. Stimmt das?«
Wieder senkte sich Stille über sie.
Beth hatte sich auf den Boden gesetzt, gerade außerhalb von Lances Blickrichtung, und sich mit dem Rücken an einen einigermaßen stabil aussehenden Abschnitt der allgegenwärtigen Bücherregale gelehnt. Hier unten waren sie mit mächtigen Bänden gefüllt, die wie Nachschlagewerke aussahen und sich auch so anfühlten. Tom lungerte unschlüssig am Ende des Bettes herum und überlegte, was er sagen könnte, falls es erforderlich werden sollte, dass er etwas Hilfreiches beitrug. Als Beth ihre Frage gestellt hatte, fiel sein Blick auf mehrere Blätter bedruckten Papiers, die neben Lance auf dem Bett ausgebreitet lagen. Das sah verdächtig nach seinem langen Brief aus, den er in den frühen Morgenstunden nach jener Zugfahrt, die dazu geführt hatte, dass er sich in seiner Welt nicht mehr sicher fühlte, eingetippt hatte. Oje. Zum ersten Mal fragte er sich, ob es vielleicht eine blöde Idee gewesen war, diese Litanei der Furcht und des Unbehagens ausgerechnet an jemanden zu schicken, der so angreifbar war wie Lance. Er ließ sich in den Klappsessel fallen, der manchmal als Gästebett herhalten musste, und kaute unruhig auf der Haut am mittleren Gelenk seines Zeigefingers herum, während er darauf wartete, dass Lance etwas sagte. Er hätte darauf gewettet, dass es eine Frage sein würde. So war es auch.
»Wenn jemand euch etwas vom ›wirklichen Leben‹ erzählen würde«, sagte Lance endlich mit tonloser, kraftloser Stimme und schaute dabei weiter durchs Fenster hinaus, »was würdet ihr denken, wovon er redet?«
Tom und Beth wechselten einen Blick. Tom hörte auf, an seiner Hand zu nagen, hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.
Beth stand auf und setzte sich neben Lance aufs Bett. »Nun ja«, sagte sie unsicher, »ich schätze, er würde von dem sprechen, was im Leben wirklich ist – oder?«
Der gutgemeinte, schwächliche Versuch einer Antwort schwebte zitternd wie eine Seifenblase durch die Luft, bis sie an Lances Büchern zerplatzte und für immer verschwand. Wieder herrschte lange Zeit Schweigen, bis Lance sein Gewicht ein wenig verlagerte, einen Seufzer durch die Nase ausstieß und weitersprach.
»Also, ich glaube, ich kann euch sagen, was damit meistens gemeint ist«, sagte er. »Ich habe in letzter Zeit eine Menge darüber nachgedacht. Es ist genauso wie mit dem Gerede von der wirklichen Welt, das man immer hört. Ihr wisst, was ich meine. Wenn jemandem etwas Unangenehmes passiert und die Leute dann sagen: ›Willkommen in der wirklichen Welt.‹ Kennt ihr das? Für sie bedeutet ›wirklich‹, dass es auf keinen Fall gut sein kann. Wirklich ist immer grauenhaft. Es kann nur schmutzig oder schäbig oder verdorben oder brutal oder deprimierend bedeuten. Und jeder, der dem nicht zustimmt, ist ein Weichling, der sich Illusionen hingibt und irgendwie oberflächlich