was ein Dossier sei.
»Ihr habt alle eines«, erklärte Mike. »Alle Kinder müssen ein Dossier haben.«
Verständnisloser Blick.
»Das ist ein Bericht über die wichtigsten Dinge, die mit dir passiert sind, und alles, was du getan hast, seit du klein warst. Alles auf Papier aufgeschrieben, in so einer Art großem Pappumschlag. Warum?«
»Ach, nichts«, sagte Darky.
Den ganzen nächsten Vormittag und Nachmittag musste Darky über dieses Dossier nachdenken. Damals hatte er nur ein oder zwei ganz kleine Ruhekissen. Das eine war seine Schwimmurkunde. Als er acht war, hatte er eine Urkunde dafür bekommen, dass er einmal quer durchs Becken geschwommen war. Wenn jemand ihm diese Urkunde geben würde, dann könnte er sie neben seinem Bett an die Wand hängen und anschauen. Das würde ihm gefallen. Sie musste in seinem Dossier sein. Mike hatte ganz klar gesagt, dass darin all die wichtigsten Sachen waren. Was könnte wichtiger sein als das Einzige, wofür er je einen Preis bekommen hatte? Als Mike nach dem Tee seinen Dienst antrat, fragte Darky ihn höflich, ob es ihm etwas ausmachen würde, ihm seine Schwimmurkunde aus seinem Dossier zu holen, damit er sie sich an die Wand hängen könnte. Mike starrte ihn einen Moment lang an und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Witzbold«, sagte er, »dafür sind doch Dossiers nicht da. Darin stehen die Orte, wo du gewohnt hast, und was dort passiert ist. Namen und Adressen. Was schiefgegangen ist, was gut gelaufen ist und so. Verstehst du? Eine Schwimmurkunde ist da nicht zu finden, fürchte ich.«
Darkys Wangen brannten so heiß, dass er dachte, er würde Feuer fangen. Als er später in dem Korridor herumlungerte, der hinunter zu den Schlafräumen führte, hatte er mitangehört, wie Mike im Büro lachend Mr. Tennant davon erzählte, wie Darky nach der Schwimmurkunde in seinem Dossier gefragt hatte.
Mr. Tennant lachte auch, wenn auch nicht so laut wie Mike, und sagte: »Bizarres kleines Geschöpf, was?«
Darky hatte keine Ahnung, was bizarr war. Er wollte es auch nicht wissen. Er brauchte es nicht zu wissen.
Hätte man ihm je erlaubt zu lesen, was tatsächlich in seinem Dossier stand, so hätte Darky vielleicht angefangen, jene dunklen, schwierigen Halberinnerungen zu verstehen, die in ihn hineinrauschten wie Gespenster, um sich in den Lücken einzunisten, die durch Unordnung und emotionale Nachlässigkeit entstanden. Die ersten Seiten des Dossiers schilderten, wie er als Krabbelkind den größten Teil jedes Tages in seinem wackeligen kleinen Kinderbettchen zubrachte, ohne Windelwechsel und ohne Essen, sich an dem hölzernen Seitengitter festhielt und mit beiden Händen daran rüttelte und unter Tränen die Rückkehr seiner jungen redegewandten, aber überforderten alleinstehenden Mutter von ihren eigene Lücken füllenden Aktivitäten herbeisehnte, damit sie sich um ihn kümmerte. Mit achtzehn Monaten war Darky in die Fürsorge und zu dem ersten von etlichen Pflegeelternpaaren gekommen, die alle großes Mitleid empfunden hatten, als sie von seinen bisherigen Lebensumständen hörten, aber letzten Endes keine Zuneigung zu der merkwürdigen kleinen Persönlichkeit, die diese Umstände hervorgebracht hatten, zu entwickeln vermochten.
Seine Mutter sah er nie mehr wieder. Eine Weile lang hatte er oft an sie gedacht, während er heranwuchs. Sie war geradezu der Inhalt aller seiner Hoffnungen und Träume. Wenn er nachts wach lag, war er manchmal ganz sicher, dass er sah, wie sie ihm aus der Dunkelheit zulächelte, drei Handbreit über dem Fußende seines Bettes. Sie hatte das Gesicht eines Engels, getrübt nur vom Kummer darüber, von ihrem Sohn getrennt zu sein. Sie liebte und vermisste ihn. Irgendetwas, irgendjemand hielt sie immer davon ab, zu kommen und ihn zu holen. Eines Tages würde sie ganz sicher auftauchen und ihren kleinen Jungen finden, und dann würde sie ihn mit sich nach Hause nehmen und alles würde wieder gut sein. Dies geschah freilich nie und mit den Jahren verwandelte sich die Sehnsucht in Darky in Zorn und Ablehnung. Verschiedene Pflegeeltern und Fürsorgemitarbeiter hatten ihm den gleichen Trost angeboten. Seine Mutter hatte ihn geliebt, aber sie war zu jung gewesen, um sich richtig um ihn kümmern zu können. Blödsinn. Wenn sie sich je um ihn geschert hätte, wäre er jetzt bei ihr. Er wollte sie nie wiedersehen. Und damit hatte es sich.
2
Darky Greens morgendliche Routine lief stets genau gleich ab. Der Moment unmittelbar nach dem Aufwachen löste meist eine vorübergehende Panik aus. Dafür gab es eine Reihe von Gründen. Der Umstand, dass das zugeknöpfte Ende der Bettdecke sich manchmal während der Nacht zur Seite oder gar nach oben gedreht hatte, wo es doch nach unten gehörte; die Haare, die teils in alle Richtungen standen wie geknickte Federn, teils an der Seite seines Kopfes klebten; das zurückgebliebene Gefühl, in den fremden, unbekannten Gefilden des Schlafes das Ruder nicht in der Hand zu haben – all diese Dinge ließen ihn mit einem Satz aus dem Bett springen und sich in die beruhigende Routine des Waschens und der Schadensbehebung stürzen. Je eher alles wieder in Ordnung war, desto eher war die Gefahr vorüber. Er war sich dessen zwar nicht bewusst, aber der erwachsene Darky hatte immer noch Angst davor, Privilegien einzubüßen. Toilette, Dusche, Abtrocknen, reichlich Axe Dimension unter die Arme und um den Schritt, saubere Unterhosen an, Bett machen, Zimmer aufräumen. Dann war es Zeit, sich anzuziehen und an seinen Haaren zu arbeiten.
Anziehen war eine Kleinigkeit für Darky. Ein Fliegenschiss. Seit er zu Geld gekommen war, hatte er intensiv daran gearbeitet, sich einen »Look« zu verschaffen. Nachdem er ihn gefunden hatte, blieb er dabei. Es war viel einfacher, wenn alles seine Ordnung hatte. Die Unterwäsche lag in der großen Kommode in der Schublade oben links. Die Socken rechts. Jedes Paar sah gleich aus. Glatt weiß. Der Rest seiner Garderobe bestand aus sechs fast identischen Paar schwarzer Jeans in Kindergröße mit Aufschlag, vier Sätzen zu je fünf geknöpften Hemden in Blau, Rot, Grün und Schwarz, einer Sammlung von ledernen Schnürsenkelkrawatten im Cowboystil, teils silbern, teils golden gefärbt, vier Paar Hosenträger, alle rot, und vier dreiviertellangen Jacken im Teddyboystil, farblich passend zu den Hemden. Die Jacken waren Darkys Stolz und Freude. Er liebte es, sie in seinem Kleiderschrank hängen zu sehen, ihm als sein Eigentum ergeben und sich täglich demütig und bereitwillig seiner Auswahl unterwerfend. Ein Harem von Jacken. Sie stammten von »Edward The Seventh«, einer zweistöckigen Nobelboutique, die versteckt in einer kleinen Seitengasse der Regent Street lag, nicht weit vom Oxford Circus, und sie hatten einen Haufen Geld gekostet. Der Kauf einer weiteren dieser Jacken war einer der wenigen Gründe, aus denen sich Darky je irgendwo anders als in Lipsham oder Kington aufhielt. Er hatte mit der Boutique vereinbart, dass er angerufen wurde, wenn eine neue Farbe hereinkam. Das waren herrliche Ausflüge. Er genoss sie wie nichts anderes. Bald war es wieder so weit. Noch schöner war es, wieder nach Hause zu kommen und seine Neuerwerbung in seinen Kleiderschrank zu hängen, dann vom Bügel zu nehmen und wieder aufzuhängen, dann wieder abzunehmen und wieder aufzuhängen. Seine vier Paar Schuhe standen in einer säuberlichen Reihe auf dem Boden an der Seite des begehbaren Kleiderschranks, poliert und einsatzbereit. Es waren die spitzesten Schuhe, die er in seiner Größe finden konnte; fast wie echte Winkle Pickers nach italienischer Art.
Heute die blaue Jacke und ein blaues Hemd, dazu eine silberne Krawatte. Genau das Richtige für die Brautschau.
Sobald sein Körper mit Kleidung bedeckt war, fühlte sich Darky schon viel wohler. Er war schon als Kind immer klein für sein Alter gewesen. Das Umziehen in Gegenwart anderer Jungen – oder das Finden von Wegen, es zu vermeiden –, war eines der schlimmsten, stressigsten Dinge in seinem Leben gewesen. In einem Heim in der Nähe von Hastings hatte man ihm wegen seiner pfeifenreinigerähnlichen Arme und Beine und seines klapperdürren Körpers den Spitznamen »Dolly« gegeben. Seither hasste er dieses Wort und Hastings ebenso. Hastings war ein großes, breites Gesicht mit einem höhnischen Grinsen darauf. Am liebsten hätte er Hastings mit einem Spaten eins über den Kopf gezogen und es spätabends irgendwo hinten im Garten vergraben. Jetzt, als Erwachsener, war er für immer zu klein für sein Alter. Er wünschte, er hätte mehr Schamhaare, und nicht in dieser schrecklichen rötlichen Farbe. Und noch manches anderes. Aber seine Kleidung, die hatte er gut im Griff, und das änderte alles. Oh ja, mein Sohn, das änderte alles.
Nun war es Zeit, sich vor seinem strategisch angebrachten Badezimmerspiegel die Haare zu kämmen. Beinahe ein körperliches Vergnügen. Zuerst das Gel. Herausdrücken. Einreiben. Dann das Beste. Mit den Fingern durch die Haare nach hinten verteilen. Weich und