Nadia Bolz-Weber

Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen


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zehn Jahre her, dass ich ihn kennengelernt hatte, und in der Zwischenzeit war ich zum christlichen Glauben zurückgekehrt. Ich glaube, ich war der einzige gläubige Mensch, den er kannte. Er stellte sich Fragen über Gott: War er für Gottes Liebe unerreichbar? Ich ließ all meine Coolness und meinen Sarkasmus fahren und betete am Telefon für ihn. Ich bat, er möge die ganz reale und immer verfügbare Liebe Gottes spüren. Ich betete, er möge die rückhaltlose Gewissheit bekommen, dass er ein geliebtes Kind Gottes war. Bestimmt habe ich noch eine Menge anderes Zeug gesagt. Ich wollte gern in der Lage sein, diesen Dämon auszutreiben, der unseren PJ im Griff hatte, von ihm Besitz genommen hatte, der ihn mit Lügen fütterte und das Licht der Liebe Gottes von ihm fernhielt.

      Anderthalb Wochen später saß ich in einem riesigen Hörsaal der Universität von Colorado in Boulder (wo ich mit meinen fünfunddreißig Jahren und als verheiratete Mutter von zwei Kindern endlich mein Studium abschließen wollte), als mein Handy klingelte. Ich rannte nach draußen, und die kalte Luft trieb mir die Tränen in die Augen.

      Sean, ein Comedy- und Ruderkumpan, sagte: „Nadia, es geht um … um PJ, Liebes.“ „Scheiße“, sagte ich.

      „Es tut mir leid“, sagte Sean. Es tat uns allen leid. „Kannst du die Trauerfeier für ihn machen?“

      Und das war meine Berufung in den vollzeitlichen Dienst. Meine wesentliche Qualifikation? Ich war die einzige Fromme in unserem Haufen.

      Die Trauerfeier fand an einem frischen Herbsttag vor vollem Haus im Klub „Comedy Works“ in der Innenstadt von Denver statt. Das Alkoholiker-Ruderteam und die Komiker von Denver, die Mitarbeiter der Comedyklubs und die Akademiker. Das waren meine Leute. Während ich die Traueransprache für PJ hielt, wurde mir klar, dass ich vielleicht dazu bestimmt war, ihre Pastorin zu sein.

      Nicht, dass ich mir besonders heilig oder seelsorgerlich vorgekommen wäre. Aber dort in diesem Kellerraum, in dem es nach abgestandenem Bier und schlechten Witzen roch, schaute ich mich um und sah so viel Schmerz und Fragen und Verlust, dass niemand, auch ich nicht, wusste, wie damit fertig zu werden war. Und ich sah Gott. Gott mitten unter all den Komikern, die da mit verschränkten Armen an der Wand standen, als könnten sie sich mit ihren höhnischen Bemerkungen jegliche peinlichen Emotionen vom Leib halten. Gott dicht an der Seite der Frau, die dort die Bühnentreppe hinabstieg, nachdem sie sich ein bisschen zu offenherzig darüber geäußert hatte, was für ein heißer Liebhaber PJ gewesen sei. Gott mitten unter den Zynikern und Alkoholikern und Tunten.

      Ich bin nicht die Einzige, die gleichzeitig die Schattenseite und Gott sieht. Es gibt eine Menge von uns, und wir sind zu Hause in den biblischen Geschichten von Antihelden und Leuten, die nichts kapieren, von Prostituierten und ungehobelten Fischern. Ist denn ein manisch-depressiver Alkoholiker so verschieden von diesem Figurenensemble? Hier, mitten in meiner eigenen Gemeinschaft von Schattenseitenbewohnern, konnte ich nicht mehr anders, als das Evangelium wahrzunehmen, die umwälzende Realität, dass Gott nicht weit weg ist, sondern hier in der Zerbrochenheit unseres Lebens. Und nachdem ich das gesehen hatte, konnte ich nicht mehr anders, als darauf hinzuweisen. Mir wurde klar, dass ich aus Gründen, die ich nie ganz verstehen werde, dazu berufen war, von dorther, wo ich bin, das Evangelium zu verkünden, und vom Evangelium her zu verkünden, wo ich bin.

      Angefangen hatte es in der ersten Zeit meiner Trockenheit damit, dass ich mich widerstrebend darauf einließ, wieder mit dem Beten anzufangen. Das hatte zu meiner Rückkehr zum christlichen Glauben geführt, und nun sogar zu etwas noch Ungeheuerlicherem: Ich war zur Pastorin für meine Leute berufen.

       Kapitel 2

       Gottes Tante

      Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still.

      – 1. Timotheus 2,11 - 12 (Luther)

      Fünfundzwanzig Jahre, bevor ich in einem Comedyklub eine Trauerfeier halten sollte, wurde ich getauft. Es war ein Sonntag im Frühjahr 1981, und ich hatte weiße Sandalen an. Der Prediger in seinem jeansblauen Polyesteranzug hatte seine Predigt mit einem Bekehrungsaufruf nach vorn beendet. Wenn du bereit bist, dein Leben dem Herrn zu übergeben, oder wenn du dich taufen lassen möchtest, dann komm jetzt nach vorn, während wir alle aufstehen und singen.

      Die Leute standen auf und sangen, und ich ging durch den Mittelgang auf den Pastor zu. Ein anderer Mann überreichte mir eine Karte und einen kurzen Bleistift, als ich mich auf die gepolsterte Kirchenbank setzte. Nachdem ich angekreuzt hatte, dass ich mich taufen lassen wollte, trat wieder ein anderer Mann an die Kanzel, um es der Gemeinde bekannt zu geben.

      Dann sagte ich ihnen, von welchem der Männer ich getauft werden wollte.

      In der Gemeinde, in der ich meine Kindheit verbrachte, wurde gelehrt, ins „rechenschaftspflichtige Alter“ komme man mit etwa zwölf Jahren. Ins rechenschaftspflichtige Alter zu kommen hieß, dass man geistlich gesehen nicht mehr bei den Eltern mitversichert war. Mit zwölf fängt in geistlicher Hinsicht die Uhr an zu ticken. Man kann jetzt richtig und falsch unterscheiden, und deshalb muss man auch für jeden Mist, den man baut, Rechenschaft ablegen. Wenn man sündigt, obwohl man richtig und falsch unterscheiden kann, und dann stirbt, bevor man sich für die Taufe entscheidet, landet man für alle Ewigkeit im Höllenfeuer. In dieser Zeit fangen also Kinder an, sich für die Taufe zu entscheiden. Die Zeitspanne zwischen dem Eintritt ins rechenschaftspflichtige Alter und dem Tag, an dem man durch die Taufe reinen Tisch macht, ist manchmal voller Schrecken. Viele von uns beteten, bloß nicht bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, bevor wir getauft waren, so wie andere Leute beten, dass sie nicht krank werden, bevor sie über den Arbeitgeber krankenversichert sind. Zwölfjährige Kinder in der Church of Christ erleben eine Welle der Frömmigkeit, eine Große Erweckung, die nur aus Sechstklässlern besteht.

      Da zwölf das rechenschaftspflichtige Alter war, galt zugleich auch, dass Jungen ab zwölf Jahren in der Sonntagsschule nicht mehr von Frauen gelehrt werden durften. Gemäß 1. Timotheus 2,12 war es Frauen nicht gestattet, Männer zu lehren. Folglich besaß ein zwölfjähriger Junge mehr Autorität als eine erwachsene Frau. Frauen durften nicht als Älteste dienen, predigen oder Gottesdienste leiten. Aus irgendeinem Grund besaßen wir nicht die Vollmacht, einem Mann den Kollektenteller zu reichen. Die Vollmacht hingegen, demselben Mann eine Stunde später beim Gemeindepicknick einen Teller mit Brathühnchen und Kartoffelsalat zu reichen, besaßen wir durchaus.

      Dale Douglass war der erste männliche Sonntagsschullehrer, den ich hatte. Er war freundlich und witzig und scheitelte seinen dicken, sandblonden Haarschopf so tief über dem Ohr, dass es völlig unnötigerweise so aussah, als versuchte er, eine Glatze zu verbergen. Dale fing da an, wo die Frau, die uns im Jahr davor unterrichtet hatte (als sie noch die Vollmacht dazu besaß), aufgehört hatte: Er testete uns, um zu sehen, wie viele Fakten über die Bibel wir wussten. Ich wusste viele der Antworten, und es dauerte nur drei Wochen, bis er meine Eltern zu einem Gespräch einbestellte, um ihnen zu erklären, sie müssten meinetwegen etwas unternehmen. Ich beantwortete die Fragen zu schnell und nahm dadurch den Jungen in der Klasse die Chance, eine Antwort zu geben. Eins muss ich meinen Eltern lassen – insgeheim fanden sie das großartig. Immerhin legten sie mir nahe, den anderen auch ein wenig Raum zu lassen, aber im Grunde waren sie einfach nur begeistert, dass ich mich in der Bibel gut auskannte, und es wäre ihnen nie eingefallen, deswegen mit mir zu schimpfen.

      Die Frühreife wich dem Sarkasmus, als ich die Fähigkeit entwickelte, die Lehren und die soziale Dynamik in der Gemeinde zu analysieren. Sobald ich merkte, dass es einen Unterschied gab zwischen dem, was die Leute sagten (jeder Sex außerhalb der heterosexuellen Ehe ist verboten), und dem, was sie taten (heimliche Affären untereinander), und ebenso einen Unterschiedzwischen dem, was sie lehrten (Frauen waren minderwertig und den Männern untergeordnet) und der Wirklichkeit, die ich in der Welt erlebte (wieso bin ich dann schlauer als mein Sonntagsschullehrer?), wusste ich, dass ich da rausmusste. Ich war ein starkes, cleveres und vorlautes Mädchen, und die Gemeinde, in der ich aufwuchs, konnte mit jemandem wie mir nichts anfangen, auch wenn die Leute mich liebten.

      Als