Allerdings schaffte ich es dennoch nicht, Atheistin zu werden, wie man es hätte erwarten können. Ich hatte nie aufgehört, an Gott zu glauben. Nicht wirklich. Immerhin aber musste ich für eine Weile bei seiner Tante abhängen. Man nennt sie die Göttin.
Meine erste Begegnung mit dem Wiccakult hatte ich in den Bergen westlich von Denver auf einem braunen, grasbewachsenen Hügel, an dessen Fuß eine Jurte stand – ein rundes Nomadenzelt, in dessen Innern alle Lampen mit roten Tüchern verhängt waren, wodurch es darin aussah wie in einem Campingplatzbordell.
Ich war etwa zwanzig Jahre alt, als meine Freundin Renna (die vom Kopf bis zu den Zehenspitzen hetero ist) mich fragte, ob ich mit ihr zu einer lesbischen Hochzeit gehen wollte. „Ich kann mir nichts Besseres vorstellen“, antwortete ich, und so fuhren wir los und hörten unterwegs fünfundvierzig Minuten lang die Indigo Girls, um in die richtige Frauenpowerstimmung zu kommen. Auf dem Schoß hatte ich eine riesige Schüssel Erdbeeren. Offenbar gibt es bei lesbischen Hochzeiten oft ein Mitbringbüfett.
„Es ist eine Wicca-Hochzeit“, informierte mich Renna. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, aber es hörte sich „nichtchristlich“ an, genau wie ich, und ich vermutete, dass meine Eltern nicht viel davon halten würden. Außerdem würde es wahrscheinlich Hummus geben. Also war es mir recht.
Die Zeremonie gefiel mir sehr, und ich hatte noch nie so viele starke Frauen gesehen. Frauen mit gestrafften Schultern und kurz geschorenen Haaren, die nichts zu verbergen hatten. Wir standen im Kreis und sangen einfache Litaneien, und die beiden Bräute waren überglücklich wie andere Bräute auch, nur dass diese beiden im Stil eines Renaissancejahrmarktes gekleidet waren und sich gegenseitig heirateten. Es war die Rede von vollkommener Liebe und vollkommenem Vertrauen, und wir fütterten uns gegenseitig mit Brot und Wein und sagten: „Mögest du niemals hungern und niemals dürsten.“ Es fühlte sich an wie eine Kommunionsfeier.
Irgendwie gab es mir ein sicheres Gefühl, unter lauter Frauen zu sein. Sie ließen mich bei Gottes Tante abhängen, und ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie mich mochte. Ich verbrachte ein paar Jahre mit diesen Frauen. Wir feierten den Wechsel der Jahreszeiten und teilten unser Leben miteinander, und immer gab es Mitbringbüfetts. Wir redeten über Beziehungen und Schwangerschaften, die keinen Bestand hatten, über Chefs und Mitbewohnerinnen, die uns nicht zu schätzen wussten, und darüber, wie viel Knoblauch an ein veganes Salatdressing gehört. Einmal brachte jede von uns zum Mitbringbüfett einen Nachtisch mit, und niemand sah ein Problem darin.
Eine Lehre gab es nicht. Wir redeten nie über Glaubensüberzeugungen, sondern lebten einfach nur zusammen und sprachen von der göttlichen Weiblichkeit in uns und in der Welt. Die Göttin, von der wir redeten, fühlte sich für mich nie wie ein Ersatz für Gott an, sondern einfach wie ein anderer Aspekt des Göttlichen. Gottes Tante eben.
Ich glaube, wenn ich anderen Christen von meiner Zeit mit der Göttin erzähle, erwarten sie von mir, dass ich sie als eine Lebensphase schildere, in der ich einen Irrweg ging, von dem ich nun zum Glück zu Jesus und zu meinem Verstand zurückgefunden habe. Aber so ist es nicht. Ich kann mir nicht denken, dass der Gott des Universums auf unsere Gottesvorstellungen beschränkt ist. Ich kann mir nicht denken, dass Gott sich nicht selbst auf unzählige Weisen jenseits des Symbolsystems des Christentums offenbart. Ich brauche gewissermaßen einen Gott, der größer und geschmeidiger und geheimnisvoller ist als das, was ich je begreifen oder mir ausdenken könnte. Sonst würde es sich so anfühlen, als ob meine Anbetung sich nur auf mein eigenes Begriffsvermögen des Göttlichen richtete.
Tatsächlich fühlte ich mich während der ganzen Zeit, in der ich fernab der Gemeinde unterwegs war, von Gott geführt. Die göttliche Quelle meines Lebens und meiner Identität wusste vielleicht, dass ich das Bedürfnis hatte, mich eine ganze Weile lang in einem weiblichen Gesicht Gottes zu sonnen, während ich der Gemeinde fern war, bevor ich heil zu ihr zurückkehren und fähig werden konnte, das göttliche Weibliche in meiner eigenen Tradition zu erkennen. Wenn die feministische Gelehrte Mary Daly recht hatte, als sie sagte: „Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott“, dann musste in mir einiges zurechtgerückt werden, nachdem ich meine ganze Kindheit lang immer wieder zu hören bekommen hatte, Gott sei männlich und ich nicht (aber Jimmy aus der sechsten Klasse da drüben schon!).
Jahre später, als ich Mitte dreißig und PJ schon gestorben war, wurde mir klar, was ich eigentlich mehr als alles andere wollte: eine Pastorin für meine Leute sein – vorzugsweise junge, clevere Städter, die ihre Identität nicht bloß aus den Kategorien des Spätkapitalismus zusammenbasteln wollten. Inzwischen war ich meinen Zorn auf den Fundamentalismus meiner Kindheit durch die richtige Mischung aus Zeit, Nüchternheit und Therapie losgeworden. Aber ein kleines Problem stand meiner Zukunft als Pastorin im Weg: Ich bin eine miserable Kandidatin. Ich fluche wie ein Bierkutscher, bin mit Tätowierungen bedeckt und habe einen Hang zur Selbstsucht. Eine lutherische Pastorin würde niemand in mir vermuten.
Darum hatte ich Angst. Was mir Angst machte, war die Tatsache, dass ich mich, um eine Pastorin zu werden, wie sie mir vorschwebte, erst einmal mit ein paar meiner persönlichen Eigenschaften auseinandersetzen musste, die ich bisher am liebsten ignoriert hatte. Der Gedanke, eine geistliche Leiterin zu sein, fiel mir schwer. Ebenso das Wissen, dass ich eigentlich emotional bedürftige Menschen nicht besonders mag und mich, wenn irgend möglich, aus dem Staub mache, wenn ich sie kommen sehe. Ich hatte Schwierigkeiten mit der Vorstellung, ständig für Leute verfügbar zu sein, obwohl ich eigentlich ein bisschen misanthropisch bin. Viele Dinge machten mir Mühe, doch was mir trotz meiner Erziehung überhaupt nicht schwerfiel, war mein Geschlecht. Meine Berufung zur Pastorin schockierte mich zwar immer noch, aber sie war immer unzweideutiger geworden und mir sogar richtig ans Herz gewachsen. Deshalb wollte ich auch meinen Eltern nichts davon sagen.
Vielleicht zum ersten Mal in meinen Leben sah ich so etwas wie ein Ziel und einen Sinn vor mir, und das wollte ich mir von ihnen auf keinen Fall kaputt machen lassen. Aber irgendwann mussten sie es ja erfahren. Also saß ich an einem Samstag im November 2005 auf dem überreich gepolsterten Brokatsofa im Wohnzimmer meiner Eltern, und während sie auf das brandneue Tattoo von Maria Magdalena starrten, das jetzt meinen Unterarm bedeckte, setzte ich zu meinem nicht sehr eleganten Geständnis an.
„Ich … äh … bin sehr gern am theologischen Seminar, und ich muss euch sagen, dass ich meinen Studiengang vom akademischen zum pastoralen Abschluss geändert habe. Also, äh … wisst ihr … ich glaube, es könnte vielleicht sein, dass Gott mich beruft, eine Gemeinde zu gründen, und ich habe so das Gefühl, ich soll Pastorin für meine Leute werden, aber ich habe Angst, und, na ja … ich habe eben Angst, … aber … “ Ich hatte keine Ahnung, ob mein Gefasel irgendeinen Sinn ergab, aber wenigstens war es jetzt heraus. Meine größte Sorge war, sie könnten den Gedanken rundheraus ablehnen und mir eine Standpauke halten, weil ich nicht respektierte, dass die Schrift den Frauen das Lehren verbietet. Ich wusste nicht genau, was ich schlimmer fand – die Möglichkeit, sie könnten mich dazu bringen, mich zu schämen, oder die Tatsache, dass sie dazu überhaupt noch in der Lage waren.
In diesem Moment stand mein Vater schweigend auf, ging zum Bücherregal und nahm seine abgegriffene, in Leder gebundene Bibel heraus. Jetzt kommt’s, dachte ich, jetzt haut er mich mit dem Bibelknüppel.
Er schlug sie auf und las. An der aufgeschlagenen Seite sah ich, dass es keiner der Paulusbriefe am Ende des Buches war, sondern eine Stelle irgendwo in der Mitte. Mein Vater las nicht den Abschnitt aus 1. Timotheus, wo es heißt, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollen. Er las aus dem Buch Esther.
Die einzigen Worte, die ich von meinem Vater zu hören bekam, waren diese: „Aber du wurdest für einen Tag wie diesen geboren.“ Er schlug das Buch zu, und meine Mutter und er nahmen mich gemeinsam in die Arme. Sie beteten über mir und segneten mich. Und manchmal begleitet einen ein Segen, so wie der, den meine konservativen christlichen Eltern ihrer Tochter spendeten, der angehenden lutherischen Pastorin, die ihnen das Leben höllisch schwer gemacht hatte, fürs ganze Leben. Das ist die Sorte Segen, von der man nicht einmal sprechen kann, ohne dass einem wieder die Tränen kommen.
Kapitel 3