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Politik ohne Gott


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protestantischer Gemeinden hervorgegangen, ist die Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg ein Ort religionsübergreifender Gottesdienste geworden. Es kommt nicht darauf an, an wen Du glaubst, sondern dass Du glaubst. Nichts verkörpert deutlicher den Gang der Säkularisierung: Aus der objektiven Religion wird subjektive Religiosität. Dieser Prozess ist irreversibel.

      Das verstärkt aggressive Auftreten religiöser Gemeinschaften wird verzerrt wahrgenommen, wenn es als Wiederkehr der Religion interpretiert wird. Die neue Religiosität ist eine Reaktion auf die missglückte Säkularisierung – daher ihr antiaufklärerischer Impetus.

      Betriebsmittel aller Säkularisierung ist die aufgeklärte Rationalität, die aber in der bürgerlichen Gesellschaft an ihre Grenzen stieß. Deswegen mussten die Verteidiger bestehender Ordnung irrationale Hilfsmittel einsetzen, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Selbst ein strikter Verfechter wissenschaftlicher Rationalität wie Max Weber propagiert als »klassenbewusster Bourgeois« in der Politik Irrationales: Dezisionismus und Charisma. Die neue Religiosität des 21. Jahrhunderts widerlegt nicht Max Webers bürgerliche Theorie von der Entzauberung der Welt: Sie zeigt nur die Grenzen der Aufklärung auf. Seine heroische Vorstellung vom Bürgertum schöpfte Weber aus dem »long century«; seine verdüsterten Ausblicke auf die Zukunft im stahlharten Gehäuse der Hörigkeit resultierten aus seiner Erfassung der wissenschaftlich-technischen Dynamik der modernen Gesellschaft. Rückblickend resümierte Adorno schon vor fünfzig Jahren: »Die bürgerliche Gestalt von Rationalität bedarf von je irrationaler Zusätze, um sich als das zu erhalten, was sie ist, fortwährende Ungerechtigkeit durchs Recht.«

      Das »short century«, das man von heute aus als das Amerikanische Jahrhundert bezeichnen könnte, wurde geprägt durch den unaufhaltsamen Siegeszug technisch-wissenschaftlichen Fortschritts. Durch ihn wurde ein attraktiver »American Way of Life« möglich, der nach dem Zweiten Weltkrieg global als erstrebenswertes Ziel moderner Menschen schien. Der Aufstieg einer neuen Intelligenz, neuer akademisch ausgebildeter Mittelschichten, begann das traditionelle Bürgertum zu verdrängen. Erziehung und Ausbildung wurden zu zentralen politischen Zielen in der Systemkonkurrenz – auch in Ländern der so genannten Dritten Welt, die Anschluss an die technisch-wissenschaftliche Entwicklung suchten. In diesem globalen gesellschaftlichen Verwerfungsprozess, der nach Eric Hobsbawms kluger Beobachtung zur Folge hatte, dass es 1968 weltweit erstmals mehr Studenten als Bauern gab, entstand eine Protestbewegung, die von Berkeley bis Berlin, von Prag bis Tokio, von Mexico City bis Paris reichte. Alle intellektuellen Protagonisten der neuen Religiosität der 70er und 80er Jahre erlebten in dieser Zeit die später als »cultural wars« bezeichneten Konflikte an der Universität – die meisten sogar in den USA.

      Die Zeit nach »68« ist die Geburtsstunde der neuen Religiosität, die mit dem endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus 1989 in ihr Erwachsenenalter eintrat. In den frühen 70er Jahren kam die Protestgeneration als Lehrer in den Schulen an. An dieser Schnittstelle zwischen Familie und Öffentlichkeit eröffnete sich ein gewaltiges Konfliktfeld, in dem traditionelle Eltern von den »68ern« gelernt hatten, wie man Bürgerprotest wirksam in Szene setzen kann. Wie schon am Beginn des »short century« wurde in den USA Darwins Evolutionslehre von fundamentalistischen Eltern zum Anlass genommen, die Gottlosigkeit wissenschaftlicher Ausbildung zu attackieren. Durchschlagskraft erreichten diese neureligiösen Protestbewegungen durch eine Umstrukturierung des amerikanischen Protestantismus. Während viele Pastoren und Priester den Weg in die sozialen Protestbewegungen der 60er Jahre gesucht hatten, begannen Fernsehpriester die zurück gebliebenen Schafe zu sammeln. Diese neue Religiosität ist ökonomisch durchrationalisiert, die Spendenaufkommen gewaltig. Geworben wird mit Erweckungserlebnissen (»Glossolalie«), Massentaufen mit Eventcharakter und im TV übertragenen Wunderheilungen. Seit der Amtszeit Ronald Reagans stand auch das Weiße Haus fundamentalistischen Predigern offen.

      Die Eroberung einer Massenbasis geschieht nach einem einfachen Schema. Wer etwas gegen Abtreibung und Homoehe hat, muss nicht sechsmal am Tag beten. Fundamentalistische Organisationen politisieren dieses Gefühl, das sie mit dem traditionell empfindenden Teil der Gesellschaft teilen. Im Fall des offenen gesellschaftlichen Konflikts hoffen sie, durch ihre Aktionen die schweigende Mehrheit mit sich zu ziehen. Zivilen Ungehorsam und Widerstandsrecht reklamieren sie jetzt für sich selbst. Im besten Fall versuchen sie mithilfe dieser Mehrheit politische Ämter zu erobern, die es ihnen erlauben, die institutionelle Säkularisierung zurückzunehmen. Die Halbherzigkeit, mit der die Säkularisierung in allen modernen Gesellschaften betrieben wurde, lässt jedes Establishment alt aussehen, das von fundamentalistischen Identitätspolitikern bedroht wird. Die globale Gleichzeitigkeit von Rechristianisierung, Reislamisierung und Rejudaisierung hat Gilles Kepel in seiner vergleichenden Studie »Die Rache Gottes« aufgezeigt. Die neue Religiosität lässt sich nicht mit dem Rückgriff auf die Vergangenheit erklären. Zu ihrer Erkenntnis ist nicht Islamwissenschaft, sondern kritische Gesellschaftstheorie nötig.

      Zur Aufklärung über die weltweite neue Religiosität haben die akademischen Wissenschaften nur wenig beigetragen. Die Selbsterkenntnis, dass viele der neureligiösen Aktivisten im universitären Milieu, auch und gerade in den westlichen Ländern, erzogen worden sind, wird meist abgewehrt. Dabei steckt im neureligiösen Subjektivismus der gleiche Ungeist wie in den synkretistischen Kulten der Postmoderne – ein Kulturrelativismus, der zur Identitätspolitik zwingt, wenn man seine Interessen durchsetzen will. Der beschränkte Rationalismus der bürgerlichen Wissenschaft, der im »wissenschaftlichen Sozialismus« nachgeäfft wurde, ist auf technisch-naturwissenschaftliches Wissen eingeschränkt worden. In den Kulturwissenschaften dominiert inzwischen eine Kombination von Positivismus und interpretativer Willkür: Diskurs und Paradigmenwechsel in atemloser Verfolgungsjagd. Die Wahl der wissenschaftlichen Verfahrensweise orientiert sich nicht an Gegenstand und Sachverhalt, sondern an Imponierfähigkeit und Karrieremöglichkeit. Fernsehprediger, Terrorismusexperten und Universitätsprofessoren trennen nicht Welten.

      Gott ist tot; aber um seinen Leichnam streitet man sich überall. Das Ende der drei Welten, 1989/​1990, hat eine Neuverteilung der religiösen Zurechnungen gebracht, die aber das Weltbild vom Kampf der Kulturen nur verzerrt wiedergibt. Schon Max Webers Säkularisierungsvorstellung aus seiner Religionssoziologie am Ende des »long century« war eurozentrisch verzerrt. Er verband Säkularisierung, Aufklärung und Herrschaft universaler Rationalität. Aus allen Weltreligionen versuchte er eine Wirtschaftsethik herauszudestillieren; das konnte nur zu einem schiefen Weltbild führen. Die Organisationsweise des Islams ist keine kirchlich-hierarchische, die chinesischen Religionen sind keine dem Christentum vergleichbaren, sondern eher Philosophien. Der aus verballhornten Theorien Max Webers zusammengeklaubte Vorwurf, die islamische Welt sei so rückständig, weil sie weder Reformation noch Aufklärung gehabt hätte, passt zu einem neuen Weltbild, das aus alten Katholiken Reformatoren macht und aus protestantischen Amtsinhabern Aufklärer. An diesem Punkt wirken die »abgestorbenen Zellen von Religiosität« als das Gift ethnisch-kultureller Überlegenheitsgefühle.

      Nur wenn man Aufklärung als einen materialen gesellschaftlichen Prozess versteht – und nicht als Erziehungsprozess verkürzt, lassen sich Gesellschaften ohne von außen vorgegebene Maßstäbe vergleichen. Der prekäre Stand missglückter Säkularisierung gibt Aufschluss über das Verhältnis von Auto- und Heteronomie in einer Gesellschaft. In der Tat ging die weltgeschichtliche Modernisierung im 19. Jahrhundert von Europa aus – mit seinem Modell der Trennung von Staat und Kirche. Aber die idealtypische Verknüpfung dieses Modells mit Demokratie und Rationalität ist von Anfang an bürgerliche Ideologie gewesen, die im »short century« Lügen gestraft wurde. Das 20. Jahrhundert ist das eigentliche Zeitalter des Nationalismus geworden, am Anfang stand die Auflösung der dynastischen Reiche, in der Mitte die der Kolonialimperien und am Ende die der Blöcke. Religion gewann in diesen Prozessen eine unterschiedliche Funktion; aber religiöse Unterschiede waren nicht die Ursachen von gesellschaftlichen Konflikten, als die sie von pseudoaufklärerischen Massenmedien interpretiert wurden.

      Religiöse Unterschiede begründen keine gesellschaftlichen Konflikte: Weder der säkulare irische Kampf ist aus den unterschiedlichen Gottesdienstformen zu erklären noch lässt sich der jugolslawische Zerfallsprozess aus den unterschiedlichen Religionen von Serben, Kosovaren, Bosniern und Kroaten verstehen. Gesellschaftliche Konflikte wurden nur ethnonationalistisch gedeutet. Die differente Religion wurde von neuen Mittelschichten als Vehikel einer Machtergreifung instrumentalisiert.