Ist das nicht einfach nur ein Lockmittel für die Massen, die sonntags beim Angelusgebet kaum noch auf den Petersplatz passen? Die Feinde des neuen Papstes in der Kurie behaupten gern, er sei kein großer Theologe. Und unter katholischen Konservativen ist es ein Diskursklischee, zu bezweifeln, dass Franziskus ernsthaft, also »in der Glaubenslehre« etwas ändern werde. Als sage der Papst nicht dauernd Sätze wie: Das Christentum sei keine Ideologie, sondern ein Weg. Man erlerne ihn, indem man ihn beschreite. Die Aufgabe der Kleriker sei es, die Menschen auf diesem Weg zu begleiten, und nicht die Einhaltung der Lehre zu überwachen.
Deutlicher kann man eine antidoktrinäre Theologie nicht ausdrücken. Dazu passt auch das zweihundert Seiten dicke Apostolische Schreiben von Franziskus, das dieser im Herbst 2013 vorlegte. Darin breitete er seine Gerechtigkeitstheologie aus und kritisierte in scharfen Worten unsere Wirtschaftsweise: »Diese Wirtschaft tötet!« Es war das lebhafteste Papier eines Papstes seit langem. Die internationale Presse hat es denn auch ausführlich debattiert. Es trug dazu bei, dass Franziskus vom »Time Magazine« zum Mann des Jahres gekürt wurde und als Weltpolitiker gilt.
Im Syrienkonflikt hatte er sich bereits erfolgreich als Vermittler eingemischt. Während des G-20-Treffens in Sankt Petersburg hielt er erst ein großes öffentliches Friedensgebet ab und bat Tausende Pilger in Rom, zu beten und zu fasten. Danach schrieb er einen Brief an Wladimir Putin, der möge eine militärische Intervention in Damaskus verhindern. In Syrien glauben viele, der Brief des Papstes habe einen potenziellen Krieg verhindert. Mag sein oder auch nicht. Der Papst macht Friedenspolitik. Mehrfach bemühte er sich um ein Treffen mit dem Patriarchen der Moskauer Orthodoxie. Im Mai 2014 reiste er nach Nahost, eine Friedensmission.
Ist das Christentum wieder Weltmacht? Sollte es eine sein? Sagen wir so: Im besten Fall kann Religion sich dazu eignen, politische Probleme mit einer Klarheit zu benennen, zu der die Politik nicht fähig scheint: etwa die europäischen Flüchtlingsgesetze infrage zu stellen und eine weltweite Debatte über soziale Gerechtigkeit auszulösen – wie es der neue Papst getan hat. Die allgemeine Papstbegeisterung macht eine politische Hoffnung sichtbar. Nicht nur Christen hoffen ja, dass sich am Horizont der Zukunft etwas findet, was größer ist als ihre Alltagswünsche. Nicht nur religiöse Menschen wünschen sich, dass es außer Erfolg und Besitz noch etwas Haltbareres gibt. Früher nannte man es Erlösung. Heute würde man sagen: ein anderes Leben. Eine bessere Welt. Warum nicht.
RUPERT VON PLOTTNITZ
Die angstvolle Neutralität
Grundgesetz und Rechtsprechung in der Bundesrepublik
Auf den ersten Blick scheint alles seine säkulare Ordnung zu haben: Eine Staatskirche wird im Grundgesetz – wie zuvor schon in der Weimarer Reichsverfassung – verboten. Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert das Grundrecht der Freiheit des Glaubens und der Religion, zu der ausdrücklich auch das Recht, nicht zu glauben, gehört. Aus diesem Grundrecht folgt die Verpflichtung des Staates, sich in allen Fragen der Religion rauszuhalten und neutral zu agieren. Mit den Inhalten bestimmter Religionen darf und soll er sich nicht gemein machen. Wie auch immer geartete Einflüsse auf den Inhalt religiöser Bekenntnisse oder die Formen, in denen sie sich äußern, sind ihm ebenso verwehrt wie die Privilegierung einzelner Religionen. Für die Befürchtung, dass die Bundesrepublik etwas anderes sein könnte und sein wollte als ein prinzipiell säkularer demokratischer Rechtsstaat, scheint deshalb keinerlei Anlass zu bestehen.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass es im Verhältnis von staatlicher Neutralität auf der einen und dem Grundrecht der Religionsfreiheit auf der anderen Seite durchaus nicht so konfliktfrei zugeht, wie es das Grundgesetz zu versprechen scheint. Davon zeugen die zahlreichen politischen und juristischen Auseinandersetzungen, die es gab und gibt, wenn es um reale oder vermeintliche religiöse Symbole in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen oder den Sitzungssälen der Justiz, das Schächten beim Schlachten von Tieren als religiöse Vorgabe oder die Beschneidung von Knaben, wie sie im Judentum oder im Islam praktiziert wird, geht.
In einer vergleichsweise knappen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht 1973 noch einem jüdischen Rechtsanwalt Recht gegeben, der es unter Hinweis auf sein Grundrecht der Glaubensfreiheit und das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsangelegenheiten dem Verwaltungsgericht Düsseldorf gegenüber abgelehnt hatte, in einem Sitzungssaal zu verhandeln, auf dessen Richtertisch ein gut sichtbares Kruzifix aufgestellt worden war.
Schon zwei Jahre später allerdings wies Karlsruhe eine gegen die christliche Gemeinschaftsschule als staatliche Pflichtschule in Baden-Württemberg gerichtete Verfassungsbeschwerde mit der Begründung zurück, das Grundrecht der Glaubensfreiheit sei nicht nur ein individuelles Abwehrrecht gegen wie auch immer geartete staatliche Einflussnahmen in Glaubensfragen, sondern begründe darüber hinaus auch eine Pflicht des Staates, »Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern«. Deshalb sei, so Karlsruhe im Oktober 1979, auch das seinerzeit noch vielerorts praktizierte christliche Schulgebet in den Gemeinschaftsschulen Hessens und Nordrhein-Westfalens grundgesetzkonform, sofern die Freiwilligkeit der Teilnahme der jeweils betroffenen Schülerinnen und Schüler garantiert sei.
1995 ging das verfassungsrechtliche Kreuz mit dem Kreuz beim Bundesverfassungsgericht mit der sogenannten »Kruzifix-Entscheidung« weiter. Mit ihr bestätigte Karlsruhe unter Hinweis auf das Grundrecht der Glaubensfreiheit das Recht nicht-christlicher Eltern, ihre Kinder in Bayern nicht in einem Klassenzimmer »unter dem Kreuz« der Christen unterrichtet zu sehen. Die Entscheidung hat dem Bundesverfassungsgericht seinerzeit nicht nur in Bayern erheblichen politischen Ärger gebracht. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht auch in dieser Entscheidung aus dem Grundrecht der Glaubensfreiheit nicht nur eine Verpflichtung des Staates zur Neutralität, sondern auch eine staatliche Verpflichtung gefolgert, religiösen Gemeinschaften Raum zur Manifestation ihrer jeweiligen Bekenntnisse zu verschaffen.
Ein Reinheitsgebot in der Frage der Neutralität des Staates in den Angelegenheiten der Religionen hat das Bundesverfassungsgericht auch in seiner »Kopftuch-Entscheidung« im Jahre 2003 ausdrücklich abgelehnt. Seinerzeit ging es um eine Lehrerin islamischen Glaubens, der in Baden-Württemberg die Aufnahme in den Schuldienst verwehrt worden war, weil sie auch im Unterricht aus Gründen ihres Glaubens nicht auf das Tragen eines Kopftuches verzichten wollte. In gleicher Sache hatte das Bundesverwaltungsgericht zuvor noch entschieden, dass dem Neutralitätsgebot im Zeichen einer zunehmenden kulturellen und religiösen Vielfalt in der Gesellschaft der Bundesrepublik eine gesteigerte Bedeutung zukomme und deshalb kein Anlass zu seiner Lockerung bestehe. Dem gegenüber ließ das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung die Frage, ob religiöse Symbole wie das Kopftuch in öffentlichen Schulen mit dem Gebot der staatlichen Neutralität kompatibel seien, offen. Erfolgreich war die Verfassungsbeschwerde der Lehrerin nur deshalb, weil es aus Karlsruher Sicht für das vom Land Baden-Württemberg reklamierte Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen an einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigung fehlte. In der Sache selbst stehe es dem Staat im übrigen frei, seine Schulen bei Beachtung des Gleichheitsgebotes für unterschiedliche religiöse Symbole zu öffnen oder aber – wiederum unter strikter Befolgung des Gleichheitsgebotes – solche Symbole generell zu verbieten, wenn er Gefahren für den Schulfrieden befürchte.
Bemerkenswert eindeutig äußert sich das Bundesverfassungsgericht im Kopftuch-Urteil zur verfassungsrechtlichen Zweideutigkeit des Neutralitätsgebotes, wenn es heißt:
»Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.«
Auch in anderen Bereichen führt das Grundrecht der Glaubensfreiheit zu Abstrichen beim Schutz von Rechtsgütern, die der Rechtsordnung der Bundesrepublik ansonsten sehr am Herzen liegen. Das im Tierschutzgesetz verbotene Schlachten von Tieren ohne vorherige Betäubung zum Beispiel ist als Ausnahme durchaus erlaubt, wenn es um Angehörige »bestimmter Religionsgemeinschaften« geht, denen »zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder