bevor er am 11. April 1945 von den Alliierten im Lager Buchenwald befreit wurde, fehlt ebenso. Auch liegen keinerlei Informationen darüber vor, wann genau Strigler nach Majdanek gebracht worden ist. Eine aufmerksame und vorsichtige Lektüre von Majdanek selbst kann dabei helfen, einige historische Details, die Strigler eher nebenbei und kurz angebunden fallen lässt, nachzuvollziehen. So finden wir auf Seite 30 im jiddischen Original folgenden Satz: »Es war ein wunderschöner Vorabend des Schawuotfestes.« Da Strigler sich hier auf das hebräische Datum beruft – ein Datum, das im jüdischen Jahreszyklus von höchster Bedeutung ist, nämlich Schawuot, ein Fest, an welchem jedes Jahr der Empfang der Tora am Berg Sinai gefeiert wird – offenbart er ein genaues Datum: den 5. Sivan 5703 oder den 8. Juni 1943.
Nach der Befreiung lässt sich der 27-Jährige in Paris nieder und lebt dort sieben Jahre lang. In dieser Zeit arbeitet er als Journalist und Redakteur der jiddischen Tageszeitung Undzer Vort und verfasst gleichzeitig sechs Bücher über seine Schoaherfahrung. Im Jahre 1952 emigriert er in die Vereinigten Staaten, wo er in New York als Redakteur der jiddischen Wochenschrift Yidisher Kemfer bis 1995 tätig ist. Ab 1987 und bis zu seinem Tode 1998 ist er auch Redakteur der jiddischen Tageszeitung Forverts.
Mordechai Strigler zählte zu den gebildetsten und produktivsten jiddischen Schriftstellern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war Dichter, Essayist, Kulturhistoriker, rabbinischer Gelehrter, politischer Kommentator und Romanautor. 1978 erhielt er den Itzik Manger-Preis für Jiddische Literatur. Schwerpunkt seiner Romane und Erzählungen war das jüdische Leben in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg. Er machte es jedoch auch zu seiner Pflicht, die persönliche und kollektive Lagererfahrung in den Jahren der Naziverfolgung nicht lediglich literarisch zu schildern, sondern auch zu analysieren. In den ersten Nachkriegsjahren schrieb er vermehrt über die Holocaustüberlebenden, insbesondere über die Pariser Kreise.2
Einige jiddische und hebräische Romane, sowie über tausend Erzählungen und Essays und tausende Zeitungsartikel, die ursprünglich in zahlreichen jiddischen und hebräischen Periodika (unter seinem wahren Namen und unter wenigstens zwanzig Pseudonymen) veröffentlicht worden waren, liegen bisher nicht in Buchform vor.
Gleich nach der Befreiung von Buchenwald bemühte sich Strigler um Kontaktaufnahme mit jiddischen literarischen und journalistischen Kreisen in Übersee. Sein erster Brief aus dem befreiten Lager richtet sich an den Dichter H. Leyvick (1888 – 1962) in New York. In ihm liefert Strigler die intime Abrechnung eines Holocaustüberlebenden, der eine neue Heimstätte sucht, in der er seine inneren Seelenkräfte, die um literarischen und journalistischen Ausdruck kämpfen, zu verankern hofft; ein Hilferuf nach sechs Jahren nationalsozialistischer Unterdrückung und im Namen eines Volkes, das ein Drittel seiner Söhne und Töchter durch die Mörderhand der Diener des Bösen – der Nazi-Deutschen und ihrer Helfer – verlor.
Der Dichter H. Leyvick erkennt in Mordechai Strigler einen jungen talentierten und hochgelehrten, jiddischen Schriftsteller und beantwortet dessen Anfrage unverzüglich. Bereits im August 1945 veröffentlicht H. Leyvick in Amerika Mordechai Striglers Brief an ihn und fügt einige persönliche Begleitworte hinzu. Striglers literarischen Text stellt er dem Jiddisch-Leser in den Vereinigten Staaten als eines derjenigen Dokumente vor, »die uns erreichten zusammen mit Briefen und literarischen Chroniken, verfasst durch die Handvoll junger jiddischer Schreiber, die die Todeslager durchmachten und wie durch ein Wunder überlebten – mit diesen Dokumenten öffnet sich vor uns eine jüdische Tragödie, die so anders ist, so bitter und brutal.«
In seinem Vorwort zu Striglers Majdanek hebt Leyvick dessen inneren Drang hervor, der ihn, zusammen mit der treibenden Kraft des Gedenkens, dazu bewegt, die Schrecken seiner Erfahrungen unter den Nazis neu aufleben zu lassen, um sie kompromisslos und ohne jede Beschönigung zu Papier zu bringen. Strigler wird als Chronist einer finsteren Epoche vorgestellt; einer Epoche, die auf keinen Fall übergangen werden darf – vielmehr niedergeschrieben werden muss, um das nötige psychische Gleichgewicht nach der Befreiung wiederherzustellen. H. Leyvick betont, dass Strigler einen Leser wie ihn gerade dadurch mitreißt, dass er das Böse und Niederträchtige in der Natur des Menschen nicht als das Endstadium der menschlichen Erfahrung darstellt.
Wer Striglers Bücher über die Schoah liest, kann nur zustimmen, wenn Leyvick in seinem Vorwort unterstreicht, dass trotz des Abgrundes, in welchem sich Strigler in den Nazijahren befand und trotz der extremen Erfahrungen, die er mit allen anderen Opfern teilte und die seine geistige Gesundheit bedrohten – er doch seelisch ungebrochen die Jahre der Schoah überstand.
Striglers seelische Standhaftigkeit rührte mitunter von einem direkten Einfluss her, den der Dichter H. Leyvick bereits in seiner Jugend auf ihn gemacht hatte. In der Zeit seines frühen Jeschiwastudiums in Zamość hatte sich etwas Schicksalhaftes abgespielt:
In einem autobiografischen Poem, das er nach dem Krieg verfasste, schildert Strigler ein traumatisches Erlebnis, das er als elfjähriger Schüler (also 1929) einer Musarjeschiwa hatte und welches ihn dazu bewog, seine Heimatstadt zu verlassen. Besagtes Erlebnis war eng mit einem damals schon erschienenem Gedichtband H. Leyvicks verbunden (der genaue Titel ist nicht bekannt). Der Jeschiwabocher Strigler wurde »auf frischer Tat ertappt« – bei der Lektüre streng verbotener weltlicher Literatur. Unverzüglich vor ein Jeschiwatribunal gestellt und nicht bereit, gegen das eigene Gewissen zu handeln, bevorzugte Strigler es, die Jeschiwa zu verlassen, um sich nicht der Forderung des Leiters unterwerfen zu müssen, Leyvicks Buch zu zerstören und gleichzeitig zu schwören, dass er nie wieder jiddische Literatur lesen werde.
Eine derartige biografische Einzelheit ist nicht nur für Strigler charakteristisch. Zahlreiche berühmte Jiddisch-Schriftsteller seiner Generation hatten als Jeschiwaschüler ähnliche Erfahrungen mit der verbotenen, säkularen Jiddischliteratur. So zum Beispiel auch Chaim Grade, der mit einem Buch des Schriftstellers Joseph Opatoschu unter seiner Gemara erwischt wurde und dafür teuer bezahlen musste. Und auch der junge H. Leyvick selbst.
Die moderne jiddische Literatur wurde zunehmend zu einer ernsten Konkurrenz für die talmudische Literatur und gewann die Herzen junger talentierter Männer, die um die Jahrhundertwende geboren worden waren.
Zu Leyvicks wichtigem Vorwort für Majdanek fügte Mordechai Strigler selbst eine erläuternde Einleitung hinzu, in der er sowohl die Beweggründe für das Verfassen seines Buches, als auch seine persönliche Poetik darstellt. Diese Einleitung datierte er mit »Mai 1946«. In einem Brief an Leyvick vom 27. Juli 1946, teilt Strigler diesem mit, dass er das Kopieren seines Buches Majdanek beendet hat, um es nach New York zu schicken, da Leyvick ihm zuvor versprochen hatte, bei der Veröffentlichung des Buches in Amerika behilflich zu sein. In den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war es gang und gäbe, handgeschriebene Kopien anzufertigen. Da ein Vorwort oder eine Einleitung normalerweise verfasst werden, nachdem das gesamte Buch bereits vorliegt, ist es naheliegend, dass Strigler schon kurz nach der Befreiung in Buchenwald an seinem ersten Buch Majdanek zu schreiben begann – höchstwahrscheinlich im Sommer oder Herbst 1945 – und es im ersten Viertel des Jahres 1946 beendet hatte.
In seiner Einleitung zu Majdanek, sowie auch in seinem ersten Brief an H. Leyvick von Anfang Mai 1945 – als er sich noch im befreiten Lager Buchenwald befindet – schreibt Strigler über sich selbst und die persönlichen Schreckenserlebnisse während der Schoah in der dritten Person. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass Strigler bewusst oder unbewusst eine Objektivierung seines Zeugnisses anstrebt, das er zwar als ein individueller Überlebender ablegen, mit welchem er jedoch das Leiden des Kollektivs während des Naziregimes schildern will – wobei er sich selbst als »einen der vielen« ansieht.
Das einzige Mal, dass Strigler in seinem Brief an Leyvick zum ausdrücklich persönlichen »Ich« übergeht, geschieht im Zusammenhang mit der Zukunft, dem Leben nach der Befreiung.
Gleichzeitig drückt Strigler in besagter Einleitung nicht wenig Sorge darüber aus, das Thema der Schoah überhaupt zu berühren. Diese Sorge entspringt der tief verankerten Angst vor einer erneuten Konfrontation mit den ehemaligen Erlebnissen. Verschiedene Stellungnahmen Striglers aus anderer Quelle deuten darauf hin, dass er recht kritisch gegenüber überlebenden Schriftstellern und deren Schoahbeschreibungen war; umso mehr noch – gegenüber solchen, die nicht dabei gewesen waren. Was ihn am meisten empörte und dazu bewegte, die