Mordechai Strigler

Majdanek


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Zeit über die Schoah geschrieben wurde, überwiegend auf folgender Mystifikation und Mythologisierung beruhte: Das Heldenhafte und Heilige im menschlichen Verhalten während der Schoah wurde betont, wohingegen das Ordinär-Menschliche, Schwache und Tagtägliche in der Verhaltensweise der durchschnittlichen jüdischen Masse gänzlich unberührt blieb. Strigler veranschaulicht seine Stellung durch eine absichtsvolle Überparaphrasierung des berühmten Verses aus Jesajah 53 : 7 (»Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird«). Die ihrer Vernichtung entgegenschreitenden Juden beschreibt er nicht als »Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird«, sondern als »ein Volk, das als Menschen zur Schlachtung ging«. (in der Originalfassung S. 8, in der deutschen Ausgabe S. 18). Strigler fühlt, dass seine Kollegen obsessiv darum bemüht sind, wesentliche Aspekte der Schoaherfahrung zu umgehen, und nachdem er alles, was bis zum Jahr 1946 geschrieben worden war, gelesen hatte, beschließt er, dass er sich auf niemand anders verlassen kann und persönlich Verantwortung dafür übernehmen muss, jener Zeit durch realistische Literatur gerecht zu werden.

      Daher rührt also seine literarische Tendenz, auf kleinste Einzelheiten des Lagerlebens einzugehen, dem Leser durch mikroskopischen Fokus ganze Gefühls- und Gedankenwelten erschütterter Menschenseelen zu offenbaren, die unscheinbarsten Geschehnisse detailliert darzustellen. Um all diese nuancierten literarischen Beschreibungen vollends zu erfassen, kann sich der Leser im Grunde nicht mit einer einmaligen Lektüre der Bücher Striglers zufriedengeben. Erst mehrmaliges, wiederholtes Lesen legt die zahlreichen Aspektschichten frei, welche bei der ersten Lektüre entgehen.

      Man kann von einem entscheidenden Wendepunkt in Striglers Schriften reden – ein Wendepunkt, der mit dem unwiderruflichen Einschnitt des Krieges in sein Leben zusammenhängt. Bis zum Alter von 21 Jahren war Strigler einerseits ein Talmudstudent gewesen – andererseits bereits ein produktiver jiddischer Schriftsteller. Mit Kriegsausbruch kam es bei Strigler zu einem kritischen Zusammenstoß zwischen seinem literarischen Schreibverständnis der Vorkriegsjahre und einer neu empfundenen Pflicht, seinem Schreiben nun eine andere, von der Geschichte diktierte Dimension zu geben – er wird nun zum Zeugnis-Schreiber seiner Zeit.

      Hinzu kommt, dass seine außerordentlich intensive literarische und journalistische Tätigkeit vor dem Krieg überwiegend dem – in seinen Augen heiligen – Zweck diente, zu dem Fortgang der jiddischen Literatur und Kultur beizutragen, die alten hebräischen Quellen zugänglich zu machen, das jüdische Leben in den vorangehenden Jahrhunderten bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu verewigen und an memoireistisch-autobiografischen Schriften zu arbeiten, die übrigens erwähnenswerte literarische Qualität bezeugen. All diese verlieren nun an Bedeutung, und Strigler begreift sich als innerer Beobachter, der selbst zu den Opfern des Naziregimes zählt und das, was um ihn herum verbrochen wird, fieberhaft verzeichnet.

      In seiner Einleitung beschreibt Strigler den Seelenzustand, in welchem er sich befindet, als er Majdanek zu schreiben beginnt: »Schweren Herzens, mit einem inneren Zittern und einem Fluch auf den Lippen.« Strigler sieht das Schreiben als eine übermenschliche Pflicht an. Dies mag zum Teil der Grund dafür sein, dass er um einer subjektiven Objektivierung willen, sowohl in der Einleitung als auch in seinem ersten Brief an H. Leyvick, die dritte Person benutzt – selbst dann, wenn er eigentlich über sich selbst schreibt. Darüber hinaus verbirgt er sich in dem literarischen Sextett seiner Prosa über die Schoah hinter einer neugeschaffenen Gestalt namens Mechele.

      Sein tiefes Verantwortungsgefühl als Schriftsteller diktiert ihm eines: Verewigen. Für ihn bedeutet das, so genau und objektiv wie möglich den jüdischen Menschen und sein Verhalten zu beschreiben – das Edle sowie das Niederträchtige – aber auch das Verhalten derer, die ein ganzes Volk nicht nur in physische Vernichtung führten, sondern auch zum anwachsenden und andauernden geistigen Vegetieren zwangen.

      Strigler ist der Meinung, dass die Böswilligkeit und das Böse, welche im naziokkupierten Europa herrschten und das Leben der Juden bestimmten, ihn zum Realismus verpflichten. Es ist für ihn ausgeschlossen, die Betroffenen schlechthin als Heilige zu beschreiben, sie kollektiv zu idealisieren. Gegen Ende der Einleitung betont Strigler wiederholt, dass sein Schreiben über die Schoah, so wie er sie persönlich erfuhr, frei von jeglicher Idealisierung oder Mythologisierung der Opfer sein will. Und abschließend fügt er hinzu: »Möge ihr heiligmenschliches Andenken damit gesegnet werden. Und mögen ihre im Leben geschändeten Seelen ihre Anklage hinausschreien gegen die Verbrecher an Leib und Seele – bis in alle Ewigkeit.«

      Wer die Korrespondenz zwischen Mordechai Strigler und H. Leyvick liest, entdeckt ein Phänomen, das für Strigler charakteristisch ist. Als Schriftsteller und Schoahüberlebender spürt Strigler, sobald er nach der Befreiung beschließt, unverzüglich seine persönlichen Erfahrungen und die der europäischen Juden unter den Nazis niederzuschreiben, dass ein erster Impuls ihm befiehlt, alle Eindrücke und Erlebnisse aus den Schoahjahren in einem einzigen Buch zu erfassen. So übrigens auch ein anderer Schoahüberlebender – der Schriftsteller K. Zetnik. Beide Autoren sahen jedoch sehr schnell ein, dass die zahlreichen und komplexen Erinnerungen der sechsjährigen Naziunterdrückung keinesfalls in einem einzigen Band zusammengefasst werden könnten, und mit der Zeit veröffentlichten beide wenigstens sechs verschiedene Bücher über das Leben unter Naziherrschaft, in Ghetto und Lager.

      Striglers erstem Buch Majdanek folgte ein Jahr später das zweite Buch in der Tetralogie Oysgebrente Likht (Verloschene Lichter(In di Fabrikn fun Toyt (In den Fabriken des Todes). In Majdanek beschreibt Strigler seinen dortigen Aufenthalt von einigen Wochen; entsprechend einer persönlichen Aussage Striglers, kann angenommen werden, dass er in Majdanek sieben Wochen verblieb, bevor er ins Arbeitslager Werk C überführt wurde. Dieses Lager, das der Munitionsherstellung für den HASAG-Konzern diente und sich in Skarżysko-Kamienna befand, erreichte Strigler höchstwahrscheinlich am 28. Juli 1943. Im Werk C lebte Strigler zwölf Monate als Gefangener. Anfang August 1944 wurde er ins Lager Buchenwald transportiert, wo er bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 überlebte.

      Yechiel Szeintuch, Hebräische Universität, Jerusalem

       aus dem Hebräischen von Dr. Miriam Trinh,

       Hebräische Universität, Jerusalem

       werden wieder entzündet

      Mordechai Striglers Buch »Verloschene Lichter: Majdanek« bedarf keiner Empfehlung. Es trägt die Empfehlung in sich.

      Es bedarf auch keiner Empfehlung, um im Leser den Wunsch zu wecken, es zu lesen. Denn sobald der Leser anfangen wird es zu lesen, wird er nicht mehr aufhören können. So war auch meine Erfahrung.

      Nicht deshalb, weil das Buch lieblich ist.

      Sondern deshalb, weil das Buch bitter ist − gallebitter. Aber von jener scharfen Bitterkeit, die mit aller Intensität von des Menschen Schicksalshölle widergespiegelt wird.

      Und Strigler war in der allerschlimmsten Hölle − in Hitlers Inferno; was er dort sah, hat nicht nur mit Hitler, nicht nur mit Nazideutschland zu tun, sondern mit dem ganzen Menschengeschlecht. Er sah das Grauenhafteste in der grauenhaftesten längsten Nacht, und − er sah auch den Juden in der längsten Nacht, und − auch sich selbst in der nämlichen Nacht.

      Er stand nicht nur einmal in Gefahr, innerlich verletzt zu werden, eine Gefahr, die schwärzer ist als der Tod und das Umkommen selbst, aber sein Charakter, sein eigener Verdienst, diese wundersame Kraft stand ihm bei.

      Er kam heil heraus, innerlich gerettet, aber angefüllt mit Gräuelerlebnissen, mit einer Erfahrungsreife, mit Beobachtungen, welche wert sind, entdeckt zu werden. Die Schwere der Last liegt auf seinen strapazierten jungen Schultern und treibt ihn mit Nachdruck, ein ums andere Mal, das Durchgemachte, das Erlittene neu zu erleben. Er jagt wieder mit größter Anspannung durch das Höllenlabyrinth und wir folgen ihm.

      Seine Sinne sind wach, hochsensibel. Ebenso sein Gedächtnis. Er überwältigt uns und reißt uns mit. Wir können nicht stehenbleiben. Wir müssen ihm folgen. Wir müssen sehen, was er uns enthüllt. Das Unheimlichste. Wir müssen es sehen.

      Ich sage noch einmal: Striglers »Majdanek« braucht keine Empfehlung. Meine Begleitworte sind Ausdruck der Anerkennung