geraten die einzelnen Momente täglichen Lebens aus den Fugen. Schon geht es nurmehr darum, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben, egal welcher Qualität. Der Klassenkampf scheint stillgestellt und ebenso der Konflikt mit dem ›Feind im eigenen Bett‹. Dramatisch gehen die Scheidungsraten nach unten. Da man nicht weiß, wie viel schlechter alles wird, scheint es sicherer, vorerst zusammenzubleiben, wie zerstritten auch immer. Die versprengten Einzelnen ducken sich, um vielleicht davonzukommen.
Die Vier-in-einem-Perspektive
Aber dies ist der Moment, sich aufzurichten und die Fragen noch einmal neu zu durchdenken.
Vom Standpunkt der Reproduktion der Gesellschaft gewinnen die einzelnen Bereiche des Lebens eine andere Bedeutung. An oberste Stelle rückt das Leben selbst als Zweck und Ziel und also das Verlangen, dass es gut sei. Alle Arbeit, die hierfür direkt geleistet wird, ist selbstverständlich Arbeit, gehört aufgewertet und als soziale Befähigung für alle Geschlechter5 zugänglich gemacht. Sie braucht Raum und Zeit. So wird ein feministisches Projekt einer Linken heute nicht bei der Gleichstellung der Geschlechter in der schlecht verwalteten und barbarischen Gesellschaft beginnen, sondern bei der Arbeit und ihrer Verteilung. Dafür müssen wir als Erstes gegen den bornierten Blick streiten, der nur das als Arbeit zählt, was heute in der Form der Lohnarbeit geregelt ist. Alle Arbeit in der Gesellschaft gehört besichtigt und ihre Verteilung gerecht angegangen. Dafür brauchen wir einen anderen Arbeitsbegriff und eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit, die nicht mehr bloße Tauschgerechtigkeit wäre, sondern orientiert ist an ihrem Gegensatz, dass keinem Unrecht geschehe. Besichtigen wir die Gesamtgesellschaft, so gibt es überall Aufgaben im Überfluss, von deren Erfüllung nur ein Teil bezahlt wird und vieles überhaupt ungetan bleibt, weil keine Zeit und keine Kraft vorhanden und weil andere Ziele dominant sind. Das gilt wohl für viele Fragen des Umgangs mit Natur, der menschlichen wie der, die zu unseren Lebensbedingungen zählt. Eine gerechte Verteilung der Arbeit beträfe die Verteilung der Arbeit an den Mitteln des Lebens, die in der heutigen Form der Lohnarbeit ein zum guten Leben ausreichendes Einkommen erbringen muss; dann der Menschheitsarbeit, sich des neuen, des kranken, des alten Lebens und seiner selbst sorgend anzunehmen, heute Reproduktions- oder auch Sorgearbeit, manchmal Familienarbeit geheißen. Beides sind Menschenrechte. Als Menschenrecht soll auch gelten, die eigenen Anlagen zu entfalten. Dies ist sowohl eine Notwendigkeit wegen der schnell sich ändernden Erfordernisse des Lernens, aber auch eine sinnhafte Aufgabe, als schöpferischer Mensch sein Leben als Kunstwerk zu begreifen. Schließlich bleibt die Arbeit der politischen Gestaltung von Gesellschaft im Großen, die wir Politik nennen. Uneingelöst ist in der Abgabe des Politischen an eine spezielle Berufsgruppe mit nachfolgender politischer Entmündigung der Bürger das menschliche Bedürfnis, seine Lebens- und Arbeitsbedingungen zu gestalten. – Dass Politik ein Bedürfnis auch nach Lebenssinn ist, zeigt die wachsende Zahl von »ehrenamtlich« Tätigen, die sich – fast jeder Zweite in Deutschland – unentgeltlich der Gemeinwesenarbeit verpflichten.
Eine politische Utopie für die Neuordnung der Bereiche des Lebens, die zugleich Anleitung zum alltäglichen politischen Handeln ist, ist die Vier-in-einem-Perspektive.6 Suchen wir daraus die »klare Losung« für politisches Handeln, so wäre es: Das geteilte Leben muss in ein ganzes Leben zusammengebracht werden. Eine gerechte Teilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit und Demokratie jetzt! Es muss um die Verfügung über Zeit gestritten werden. Dafür braucht es eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit tendenziell auf ein Viertel des alltäglich tätigen Lebens und einen guten Arbeitsplatz als Menschenrecht wie ebenso die Teilhabe aller an der Arbeit für Mensch und Natur in einem weiteren Viertel. Zeit und Raum für Entwicklung als Menschenwürde und politische Beteiligung von allen. Alle anderen hier nicht diskutierten Bereiche lassen sich in dieser Verknüpfung anordnen.
Die neue Linke
Auf der einen Seite scheint die Lage der Frauen in Deutschland schlecht, und nur wenige sind gewillt, sich ihrer gesondert anzunehmen. Die beste Losung scheint die der modernisierten CDU, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als die Verhängung von Dauerstress über das weibliche Volk verstärkt voranzutreiben. Auf der anderen Seite geschah es 2007 fast wie ein Wunder, dass sich die vielen versprengten Linken und die Gebliebenen aus dem aufgegebenen Sozialismus mit den von der Sozialdemokratie enttäuschten Gewerkschaftern zusammenschlossen zu einer neuen Linken. Das Projekt schreitet, wie zu erwarten behindert durch innere Zerwürfnisse und durch Medienblockaden oder -kampagnen, dennoch voran. Als Hauptprogrammatik hat es einige Lehren aus den sozialen Bewegungen aufgenommen. So, dass sich die neue Partei als sozial, als ökologisch und als feministisch begreift.
Die Partei wächst nicht sprunghaft, jedoch stetig. Der nach außen verkündete Feminismus erschöpft sich bislang in der Quote, die einzuhalten schwierig ist, wenn die weiblichen Mitglieder nicht entsprechend nachwachsen. Es ist zu wenig, wenn die Kultur und die Programmatik den Feminismus nicht grundlegend einbeziehen, so dass linke Frauen sie als ihre Partei erkennen, in die sie sich einmischen wollen.
Das Programm der neuen Linken so auf eine alternative Gesellschaft zu orientieren, dass sie gleichwohl auch innerhalb der alten Gesellschaft handlungsfähig bleibt, dazu dient das Projekt der Vier-in-einem-Perspektive. Es kann bei der Diskussion des neuen Programms, die bis zum Jahr 2011 abgeschlossen sein wird, hilfreich sein. Dieser Prozess hat begonnen.
Briefe aus der Ferne. Eine internationale Umfrage
Es geht im folgenden Buch um 47 Texte aus 13 Ländern auf sechs Erdteilen, sehr unterschiedlich in Umfang und Detailliertheit, von feministischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, die sich politisch äußern. Alle hatten die Frage, wie sie sich ein linkes feministisches Projekt heute vorstellen, und eine Kurzfassung des Projekts der Vier-in-einem-Perspektive bekommen. Alle Briefe beziehen sich auf ein ebenso mögliches wie notwendiges linkes Projekt heute: So sprechen sie, verteilt über den Globus, von einem gemeinsamen Fluchtpunkt. Sie sind sich aus der Ferne nah, wie wir uns aus der Nähe fern. Dies ist zugleich das Eigentümliche und Optimistische an den Nachrichten von überall, dass es dieses kollektive feministische Projekt international schon gibt. Es muss sich nur weiter selbst finden.7
Das vorliegende Buch ist erst ein Anfang. Das Projekt hat kein Ende: Die meisten Autorinnen arbeiten weiter und schicken weitere Texte.8 Erste Lehren aus der Umfrage sind:
In der globalisierten Welt müssen die Fragen auch vor dem Hintergrund der transnationalen Kapitale gestellt werden, die wiederum die Frauenschicksale in aller Welt mit sich reißen, so wie eben jetzt in der Weltwirtschaftskrise. Sozialismus (fast alle in der Umfrage sprechen von Sozialismus) ist als besseres Leben zu begreifen. Politik ist auf verschiedenen Ebenen anzupacken – von unten als ›Graswurzel-Politik‹ und feministisch-sozialistisch zugleich. Der Kampf um den Wohlfahrtsstaat muss als Kampf gegen seinen Abbau in den westlichen kapitalistischen Ländern zugleich mit dem Kampf für seinen Aufbau in den Dritt-Welt-Ländern verknüpft werden.
Gegen sexistische Gewalt ist bis in die Kommunikationsstrukturen hinein zu streiten – dafür müssen wir eine Sprache finden, die uns für den Umbau fehlt. Die Gewalt besteht in jedem Land der Welt fort und nimmt viele Formen an, von Vergewaltigung als Waffe im Krieg über häuslichen Missbrauch bis zum Ausschluss von Frauen und Mädchen von Gesundheitsfürsorge, Wahlfreiheit, Bildung und öffentlichem Leben, ein Ausschluss, der ihre Chancen weiter beschränkt und ihnen die Möglichkeit nimmt, ihre Rechte einzufordern.
Die außergewöhnlich große Rolle, die der gesamte Reproduktionssektor für die Erhaltung des Systems, für die Art der Erwerbsarbeit, für die Lebensweise spielt, gilt es zu erforschen und zu begreifen. Dies umfasst den Umgang mit Natur und verbietet eine Beschränkung auf den bloß gewerkschaftlichen Kampf, bzw. fordert seine Politisierung und Erweiterung. Wir streiten für eine Welt, in der Individuen beiderlei Geschlechts aufrecht leben können. Daher ist die Frage der Familienpolitik zentral für ein linkes Projekt. In ihr stellt sich die Hegemoniefrage. Es ist die Masse der Frauen betroffen. Gegen die konservative Rechte ist zu streiten, die sich Familienpolitik auf Kosten von Frauen und Familien zunutze macht. Es muss für die Erkenntnis gearbeitet werden, dass Umwelt- und andere soziale Probleme – etwa der Ausbau des Militärs – auch Familienprobleme sind. Wir wollen zur Frage ermutigen, welche Art