Gerhard Köpf

Die Zeit auf alten Uhren


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Wochen vor Christi Himmelfahrt. Als der von den Männern des Blauen Landes alljährlich heiß ersehnte Vatertag endlich da war, stand Annla in aller Herrgottsfrühe auf, um dem Wirt bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen, denn alle Welt weiß, dass es an einem Tag wie diesem nur einen Gewinner geben würde, und das war, das ist und das bleibt wie immer der Gastwirt. An keinem anderen Tag im Jahr wurde so viel Bier ausgeschenkt wie am Vatertag. Das wusste auch Annla, und sie freute sich auf die derben Sprüche, die zweideutigen Scherze, das dreckige Gelächter und die übergriffigen Hände der jungen und der alten durchaus rechtschaffenen Männer, die sich darauf verstanden, Holz zu spalten, Rösser zu beschlagen, Mauern hochzuziehen, Sensen zu wetzen und die Liebe nur als etwas Grobes kannten, das sich auf wenige harte Gesten beschränkte. Denen würde sie schon zeigen, was sie konnte, was es mit ihr auf sich hatte und dass sie genau wusste, wie sie ihre Wäschetruhe füllen würde. Deshalb zog sie sich auch ein besonders hübsches Dirndl an, weil sie wusste, dass ein Blick in den Ausschnitt die Bauerntölpel noch durstiger macht, was ihr wiederum ein Tätscheln des Gockelwirtes eintragen wird. Das war seine Art, Zufriedenheit auszudrücken.

      Und weil der Mai nicht kühl und nass gewesen war, wie es die Bauernregel eigentlich vorschreibt, sondern schon hochsommerlich warm, waren auch die mittlerweile gut gewachsenen Beine des Mädchens ein wenig von der Sonne gebräunt, so dass das Annla auf Strümpfe verzichten konnte. Das Mädchen aus dem Osten band sich die Kellnerinnenschürze um, unter der sie die Geldbörse verstaute, dann wartete sie auf die ersten Gäste, die noch während des Gottesdienstes, wenn der Pfarrer zum Predigen auf die Kanzel stieg, den Weg zum „Gockelwirt“ fanden. Schon gingen die ersten Krüge über den Tisch, und schon bekam Annla jene Temperatur, die sie besonders empfänglich machte für die dumpf verschlagenen Blicke der Mannsbilder mit ihren vierschrötigen, vom Bier und vom frühen Sommer erhitzten Schädeln. Über die Mittagszeit nahm das Geschäft zu, und Maß für Maß und Schweinebraten um Schweinebraten musste aus der Küche in die Gaststube auf die Wirtshaustische gebracht werden. Die Sonne stach vom Himmel, und auch die Honoratioren, die ihr stur standhielten und sich am Stammtisch um den Geistlichen Rat versammelt hatten, wischten sich mit ihren gestärkten weißen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn und bestellten sich zur Feier des Tages sicherheitshalber noch eine Maß Bier, denn auf einem Bein kann man bekanntlich nicht stehen. Es wurde politisiert und geschachert, die nächsten Hochzeiten wurden eingefädelt und der Viehhandel ausgeschnapselt, ein Wort gab das andere, und das Annla kam mit dem Bedienen kaum nach, so durstig war die Gesellschaft. Trotz der vielen Arbeit entging ihr freilich nicht, dass sogar Hochwürden einen Blick in ihren Ausschnitt riskiert hatte, als sie sich besonders weit vorbeugen musste, um dem Geistlichen Herrn seinen Krug vor seinen Prälatenbauch zu schieben.

      Das erfüllte sie mit Freude und Genugtuung, denn sie war ein kluges Mädchen, das verstanden hatte, worauf es im Leben ankam. Es kam nämlich nicht darauf an, dass man im Waisenhauschor als erster Sopran bei den Hochzeiten herzzerreißend das „Ave Maria“ singen konnte, sondern es kam auf jene Dinge an, die nicht einmal im Kino zu sehen waren, und die man eben wusste oder nicht. Auch Annla schwitzte, und der Schweiß ließ die Haut der Achtzehnjährigen glänzen, gab dem Gesicht ein paar feurige Wangen und trieb die Hitze ins Herz. Und während sich die Hitze in das Herz des Mädchens aus dem Osten senkte, rutschte sie in den Lederhosen der Mannsbilder beim Anblick der herausfordernd hübschen Kellnerin immer tiefer, besonders dann, wenn sie ihr weißes Schürzchen lüftete und die schwarze Geldtasche hervorholte, in welche sie mit ihren geschickten Händen Münzen und Scheine verschwinden ließ. Dann wären die Burschen gerne jene prall gefüllte Geldkatze auf dem Unterbauch von Annla gewesen, dann stellten sich die jungen Herren dabei nämlich vor, wie Annla nicht nur die Kellnerinnenschürze lüftete, sondern noch etwas ganz anderes. Und wenn sie nach der ersten Maß Bier hinaus auf den Abtritt mussten, wo sie ihre Hosenlätze aufknöpften und eines Sinnes einträchtig in Reih und Glied nebeneinander in der Latrine vor der Rinne standen, um ihr Wasser abzuschlagen, drehten sich ihre fachmännischen Gespräche ausschließlich um ein einziges Thema, das diesmal ausnahmsweise nichts mit der nächsten Fahnenweihe zu tun hatte.

      Wie so vieles im Leben schien freilich auch dies nur eine Frage der Zeit zu sein, wann in diesem hitzigen Spiel die Eichel-Sau Trumpf sein und wer den ersten Stich tun würde. Es ist daher ziemlich überflüssig, an dieser Stelle einen Namen zu nennen und ihn besonders herauszuheben, denn vor dem Gesetz waren ohnehin alle gleich, und die Regeln waren allgemein bekannt. Sie lauteten: Ober sticht Unter. So einfach war das. Daneben gab es noch zweitrangige Regeln wie Glück in der Liebe und Pech im Spiel und wie solche Sprüche mehr lauteten. Das alles war freilich an einem Tag wie diesem völlig gleichgültig und nebensächlich, denn jeder im Blauen Land wusste, dass es diesmal um eine ganz besondere Meisterschaft ging, um den schon viel zu lange aus allen möglichen Blickwinkeln beobachteten, ausgiebig diskutierten und allseits begehrten Pokal, ums Ganze, und dass das Annla am Vatertag ohne Wenn und Aber in die Gesellschaft des Blauen Landes aufgenommen werden musste, auch wenn sie von irgendwoher aus dem Osten gekommen war. Von nun an sollte sie dazu gehören und ein für allemal ihren Platz einnehmen, einen Platz, der ihr gebührte, für den sie geboren worden war, dessentwegen sie vor dem Russen geflohen war, den ihr die Mannsbilder des Blauen Landes, die ja allesamt tapfer gegen diese Kalmücken gekämpft hatten, von heute an zubilligten, und den sie eigens für sie bestimmt und ausgesucht hatten. Lediglich die Frage war noch offen, wer den Pokal aufbocken, zum Schuss kommen, den Vogel abschießen, den Volltreffer landen würde, denn der Anwärter waren da viele.

      Wie hatte der Geistliche Rat in der Himmelfahrtspredigt von der Kanzel herab doch gleich gesagt: „Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtet. Er sandte seine Knechte aus, um die Eingeladenen zum Feste herbeizurufen. Doch diese wollten nicht kommen. Er schickte nochmals andere Knechte mit dem Auftrag aus: 'Sagt den Geladenen: Seht, mein Gastmahl ist bereitet, meine Ochsen und das Mastvieh sind geschlachtet; alles steht bereit. Kommt zur Hochzeit.' Doch diese gingen unbekümmert weiter. Der eine auf seinen Acker, ein anderer in sein Geschäft. Darauf sprach der König zu seinen Knechten: 'Das Hochzeitsmahl ist bereitet; doch die Geladenen waren dessen nicht wert. So geht denn an die Straßenausgänge und ruft zur Hochzeit, wen immer ihr findet.' Die Knechte gingen auf die Straßen und brachten alle, die sie gerade fanden, Böse und Gute, und der Hochzeitssaal füllte sich mit Gästen. Der König trat herein, um sich die Gäste anzusehen. Dort sah er einen Menschen, der kein hochzeitliches Gewand anhatte, und er sprach zu ihm: 'Freund, wie bist du ohne hochzeitliches Gewand hereingekommen?' Doch dieser schwieg. Darauf gebot der König seinen Knechten: 'Bindet ihn an Füßen und Händen und werft ihn in die äußerste Finsternis hinaus; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt.'“ So hatte Hochwürden gepredigt.

      Doch was kümmerte die Burschen des Blauen Landes, was so ein Pfarrer an Christi Himmelfahrt von der Kanzel herab verkündete? Was ging das die jungen, voll in Saft und Kraft verbissenen Kerle des Blauen Landes an? Was scherten sie ein König und sein Hochzeitsmahl, zu dem niemand kommen wollte, wo sie doch längst die Braut aller Bräute auserwählt und im Visier hatten? Mag ja sein, dass viele sich berufen fühlten, das Annla in den Keller, in den Heustock oder bei arger sommerlicher Hitze in einen kühlen, verschwiegenen Beichtstuhl zu begleiten, doch wer auserwählt sein würde, das würden sie schon selber herausfinden, dazu würden sie weder einen Pfaffen benötigen noch einen König und dessen Knechte. Selbst ist der Mann, und wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und ob es dabei jemals zu einer Hochzeit kommen würde, das war bei einem Weibsbild wie dem Annla von vorneherein höchst fraglich, denn so eine ist zum Bedienen da, nicht aber zum Heiraten.

      Komm Annla, bring uns noch eine Maß und noch eine, und dann sagst du uns, du Katz', was du haben willst für eine hitzige Viertelstund', denn länger würde es nicht dauern, das wäre doch gelacht. So lange wird dich der Gockelwirt wohl entbehren können an einem Tag wie heut', an dem wir ihn ohnehin zum Millionär saufen, heut', bei diesem Kaiserwetter, an dem im Blauen Land die Helden gezeugt werden. Komm her und zier dich nicht, so gut wie der Russe können wir's auch, wir, der Stolz des Blauen Landes, wir im Bierdunst, im gemeinsamen Rausch, der uns einig macht und stark und uns wie aus einem Leib schwitzen lässt, los, stell dich auf den Tisch, dass wir dich anschauen können, wir wollen nämlich sehen, wie deine Storzen gewachsen sind, „a Hirtemadln mog i net, hot koane dickn Wadln net“, und schmecken wollen wir mit der Zunge, ob du nicht doch noch nach Milch riechst, du Hex', du willst es doch