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gebettelt, doch da er nicht erhört worden war, versiegten eines Tages seine Tränen, und er sah stumm diesen Hinrichtungen zu. Sein einarmiger Vater sagte ihm, er sei selbst daran schuld. Warum könne er nicht sein wie die anderen? So schwer sei das doch nicht. Die Bücher hätten ihn verweichlicht und verdorben. Die Mutter schwieg zu alledem und zählte immer wieder ihr Haushaltsgeld. Am Abend, wenn sie ihren schwächlichen Sohn im Bett liegen sah, wenn er eingeschlafen war und sie ihm die Taschenlampe und seinen Schmöker aus der Hand nahm, um sie auf dem Nachtkästchen abzulegen, schossen ihr Tränen in die Augen. So wehrlos lag ihr Siegfried da, und die einfache Frau verstand, warum er nicht glücklich werden würde im Leben. Die Dummen würden ihn, seine Träume und Sehnsüchte, seine Hoffnungen und seine Verzweiflungen nie begreifen, und die Intelligenteren, die Glücklichen und Starken würden sich von seiner Wehrlosigkeit in Frage gestellt sehen, und beide würden ihn weiterhin quälen und an seinem Lebensglück hindern. Was kann eine Mutter in so einem Fall tun, mag sie sich gefragt und dabei eingesehen haben, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als weiterhin die Fehler zu machen, die sie bisher gemacht hatte. Von ihrem Mann würde sie keinerlei Hilfe oder gar Verständnis erwarten können. Der fuchtelte lieber mit seinem kümmerlichen Armstummelchen in der Gegend herum, lockte die Kurgäste an wie der Rattenfänger von Hameln und konzentrierte sich bei jedem neuen Sonderzug, der am Bahnhof ankam, darauf, ob nicht vielleicht eine lustige Witwe dabei war, der er mit seinem gesunden Arm und seiner kräftigen Hand, mit der er Furi die üblichen Ohrfeigen gab, das Alpenglühen näherbringen konnte.

      Dann kam der Tag, an dem die Klasse einen Ausflug machte. Das Wort dafür hieß Wandertag. Vorher gab es jedes Mal Streit um das Ziel. Die Mädchen wollten Schloss Neuschwanstein besuchen, andere zog es in den Hopferwald zu einem Lagerfeuer unter Aufsicht, die Mehrheit wollte am liebsten gleich auf den Fußballplatz. Aber jedes Mal entschied zuletzt doch der Lehrer, wohin es gehen sollte. Diesmal entschied er sich für die „Große Zwing“. So hieß eine enge Gebirgsklamm, an deren Ende ein Wasserfall aus gewaltiger Höhe von senkrecht überhängenden Wänden über Felsbänke und bizarre Gesteinsformationen in die Tiefe stürzte und in Gischt und Gebraus jeden noch so lauten Schrei verschluckte. Auf halber Höhe führte ein schmaler, in den Felsen gehauener Holzsteg durch die Schlucht und gab den Kurgästen Gelegenheit, dieses grausige Naturschauspiel aus unmittelbarer Nähe zu bewundern. Wenn unter einem der Tiefenbach brodelte und von oben die Wassermassen durch die zu jeder Tageszeit nur spärlich helle Klamm brachen, so vermittelte das dem Besucher ein wohlig schauderndes Gefühl, das ihm für einen Augenblick demonstrierte, wie klein doch der Mensch war im Angesicht der Naturgewalten.

      Die vom Lehrer zur Vorbereitung auf den Wandertag im Unterricht erzählte Legende besagte, kurz vor Weihnachten anno 1857 habe ein Jäger namens Schwarzkopf in der Nähe der Klamm einen kapitalen Hirschen geschossen, der dort, wo die Schlucht am unbegehbarsten war, in die Tiefe gestürzt sei. Es sei nahezu unmöglich gewesen, das tote Tier zu bergen, doch habe der Jäger mit Hilfe seines Jagdgehilfen, eines gewissen Seraphim, nichts unversucht gelassen und all seinen Ehrgeiz darein gesetzt, den prachtvollen Zwölfender der Klamm zu entreißen. Schließlich sei es dem tollkühnen Seraphim gelungen, sich an einer Stelle abzuseilen und sich seinen lebensgefährlichen Abstieg durch glitschigen Schnee und kaltes Eis zu bahnen, ein Seil um den Kadaver und sein Geweih zu wickeln, selbst wieder empor zum Licht zu klettern und schließlich gemeinsam mit dem Jäger unter Aufbieten ihrer gesamten Kräfte den Hirsch nach oben zu ziehen, obgleich dieser sich mit seinen Geweihschaufeln mehrfach in den armdicken Eiszapfen verfangen und beide Männer nicht nur der Erschöpfung, sondern auch der Verzweiflung nahe gebracht habe.

      Das war eine Geschichte so ganz nach dem Geschmack von Furi, weswegen er in der Nacht auf den Wandertag von schweren Träumen geplagt wurde, immer nur an den Hirsch denken musste, sich als Jagdgehilfe Seraphim sah und seinen einarmigen Vater als den Jäger Schwarzkopf. Doch jedes Mal, wenn es darum gegangen war, den Hirsch ans Licht zu zerren, war sein Traum gerissen wie ein brüchiger alter Filmstreifen, und Furi war schweißgebadet erwacht.

      „Die große Zwing“ bot zweifellos ein einzigartiges Naturschauspiel, und oft schon hatte der einarmige Fremdenführer seine Gäste dorthin geführt, sie dann aber den glitschig nassen Pfad allein durchwandern lassen und im Wirtshaus gewartet, wo er ihnen dann nach erfolgreicher Rückkehr wortreich und dramatisch die Entstehung der „Großen Zwing“ geschildert hatte, wobei er die Uhr um mehr als zehntausend Jahre zurückgestellt, von abschmelzenden Gletschern schwadroniert und mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme erzählt hatte, wie der Tiefenbach den Schrattenkalk des Engenkopfes durchsägt habe.

      Die Schulklasse brach frühmorgens auf, jeder hatte ein Rucksäcklein geschultert, in dem ein paar Pausenbrote mit Salami sowie ein lästig schwere, in den Rücken drückende Sprudelflasche verstaut waren. Man trug festes Schuhwerk und hatte einen Anorak oder eine Lodenkotze dabei, denn man war immer wieder darauf hingewiesen worden, wie nass der Weg sein und dass es überall vom Gestein herunter nässen würde, als gehe man stundenlang durch einen Landregen. Nur Furi hatte ein paar lumpige Halbschuhe an und kam daher wie ein magerer Flachländer, denn Furis Eltern konnten sich keine Bergschuhe leisten bei einem Buben, der noch im Wachstum war und dessen Füße täglich größer wurden, so dass so ein paar Bergschuhe zum einen nur in der Ecke gestanden hätten, weil Furi niemals in die Berge ging, zum anderen wären sie ihm spätestens nach einem Vierteljahr zu eng geworden, selbst wenn man sie zwei Nummern größer gekauft hätte. Aber die Halbschuhe mit ihren dünnen Sohlen, die bereits nach fünf Minuten auf dem Klammsteig gänzlich durchnässt und wie Lumpen waren, passten zu Furi und seinem erbärmlichen Erscheinungsbild, das er abgab: vor Kälte schlotternd, mit patschnassen Strümpfen, im Handumdrehen blau gefrorenen Knien und einem Fetzen von einem Anorak, der bestimmt nicht aus dem Sportgeschäft stammte, sondern aus einem Haufen von Kleiderspenden für die Caritas.

      Der einarmige Fremdenführer und die Frau, die in den Wirtshäusern die Latrinen säuberte, kannten das Salamander-Schuh-Geschäft nur von außen, und Furi hatte sich immer wieder nach den grünen Heftchen von Lurchi Salamander verzehrt und sie nur leihweise lesen können: „Lange schallt's im Walde noch, Salamander lebe hoch!“ Aber er kannte die Helden aus „Lurchis Abenteuern“: Hops, den Frosch und Igelmann, Pieps, die Maus, Unkerich und Zwerg Piping, und wie sie alle hießen. Das letzte kostbare Lurchi-Heft, das er hatte gegen zwei Butterbrote eintauschen können, hatte von einem Schneesturm erzählt und davon, wie Lurchi und seine Freunde zu einer großen Hilfsexpedition für die Tiere im Wald gestartet waren: „Hoch im Baum in ihrem Haus kämpft Familie Haselmaus.“ Dann geht es weiter zum Siebenschläfer, der nichts an die arme Verwandtschaft abgeben will, den Inhalt seiner Speisekammer in einen großen Sack packt, sich damit zu einer Hütte aufmacht, die schneebedeckt an einem Berghang versteckt liegt. Und während Lurchi schon die in einer Schneewehe versteckten Haselmäuse entdeckt und ihnen aus seiner Thermosflasche einen heißen Trank anbietet, wie auch der Lehrer, den man an seinem genagelten Schritt erkennt, dem frierenden Furi einen Schluck Tee aus seiner kriegserprobten, filzummantelten Feldflasche einschenkt, stürzt der Siebenschläfer mit seiner schweren Last auf dem Rücken in eine Gletscherspalte: „Entsetzt sieht das aus nächster Nähe Ferdinand, die Alpenkrähe“. Er bringt die Nachricht sogleich zu Lurchi, und schon wartet ein neues Abenteuer, schon gelingt dank der wetter- und bergfesten Salamanderschuhe eine aufregende Hilfsaktion.

      Und während der Lehrer zur Vorsicht mahnt und die Klasse im Gänsemarsch über den nassen Steg durch die Klamm schleicht, fällt Furi in Gedanken an Lurchi ein wenig zurück. Mit seinen lappigen Halbschuhen und seinen nassen Strümpfen kann der Sohn des einarmigen Fremdenführers auch nicht so trittsicher gehen wie die anderen in ihrem festen Schuhwerk. Aber es fällt keinem auf, dass Furi immer weiter zurück bleibt, denn um Furi muss man sich nicht kümmern, der zählt eigentlich gar nicht: weder bei der Auswahl der Fußballmannschaft noch beim Wandertag.

      Der blasse Rotschopf mit den ungewöhnlich brennenden Augen indes bleibt irgendwann einmal auf dem Weg einfach stehen, legt seinen Rucksack ab, ehe er sich auf die glitschigen Holzbohlen des engen Steges hockt und sein Lurchi-Salamander-Heftchen aus dem Rucksack zieht und unvermittelt mit dem Lesen beginnt. Und was liest er da? „Man kämpft sich durch den Schneesturm fort und ist auch bald am Unglücksort. Sie schaun hinab und sehen schon den Siebenschläfer, der halb ohnmächtig in der Spalte liegt. Es scheint, er hat was abgekriegt. Wie aber sollen sie den bleichen Siebenschläfer dort erreichen? Sogleich ruft