Gerhard Köpf

Die Zeit auf alten Uhren


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      Seinerzeit gehörte zum Pfarrhof noch eine eigene bescheidene Landwirtschaft mit zwei, drei Kühen, einer Handvoll Hühner, ein paar Streuobstwiesen und moorige Heuschläge. Besorgt wurde diese Ökonomie von der Pfarrhaushälterin, zumeist eine leibliche Schwester oder nähere Verwandte des hohen Herrn. Der Geistliche Rat Köberle pflegte täglich am Nachmittag mit dem Zug nach Tirol zu fahren, bis zur ersten Station nach der Grenze mit dem einladenden Namen Schönbichl. Die Station bestand aus einem Wirtshaus, in dem jener Südtiroler Rote ausgeschenkt wurde, der Köberle immer mehr und mehr und noch mehr mundete. Wenn es im Himmel keinen Südtiroler Roten gebe, soll er gerne gesagt haben, dann pfeife er auf die ganze Seligkeit. Mit dem letzten Zug ging's dann nach bester geistiger Abfüllung zurück. Und da der Geistliche Rat Köberle ein gewissenhafter Mann war, wollte er in der Nacht noch nach dem Vieh sehen, hat aber wohl unter dem teuflischen Einfluss des Alkohols das Stockwerk verwechselt, hat, vom Gottseibeiuns ge- und verführt, die falsche Tür geöffnet und ist mit seinen gut zwei Zentnern Fastenpredigerkampfgewicht den Gesetzen der Schwerkraft folgend und möglicherweise begleitet von einer letzten mit Stentorstimme geschmetterten Anrufung aller Heiligen auf dem Steinboden der Tenne gelandet und hat sich das Genick gebrochen, wie mein Tante medizinisch fachkundig diagnostiziert hat. Da lag nun unser Monsignore in seinem Blute, das farblich vorzüglich zu der Farbe der rot paspelierten Knopflöcher seiner Soutane passte: ein Phänomen, das unter uns Messdienern ohne spezielle medizinische Vorkenntnisse schlicht als Knopflochentzündung bekannt war.

      Bei der Beerdigung war das gesamte Blaue Land auf den Beinen. Meine Tante, die den Totenschein ausgestellt hatte, durfte nicht fehlen. Sie führte als Fahnenjunker, flankiert von zwei weißbärtigen Adjutanten, die Ehrenformation des Veteranenvereins an, denn auch sie hatte am Krieg teilgenommen. Gleich nach der leiblichen Schwester des Toten und den Geistlichen Würdenträgern der näheren und weiteren Umgebung kamen die Nonnen, von denen jede für sich schon physiognomisch ein eigener Trauerzug war. Dann folgte die Abordnung des Katholischen Frauenbundes. Sie wurde von niemand anderem angeführt als von den Damen Vogelsang, die nicht nur quer über ihre wallenden schwarzen Gewänder eine gestärkte, überbreite schwarze Schärpe trugen, sondern auch noch am linken Oberarm einen seidenen Trauerflor im Winde wehen ließen, der mit einer ebenso opulenten wie kunstvoll geknüpften Schleife versehen war. So sehr waren diese drei Damen, die man auf der Stelle für die Vorsitzenden der Zölibatessengewerkschaft hätte halten können, in die Geschehnisse des Blauen Landes verstrickt, dass es nahezu unvorstellbar gewesen wäre, die Leiche des Geistlichen Rates Köberle ohne deren vom Weihrauch großer Tragödien und pompöser Schicksale getränkte Anteilnahme mit sechs Böllerschüssen in die Ewigkeit zu schießen: sechs Schüsse deshalb, weil Köberle, ein Thulserner von altem Schrot und Korn, beide Weltkriege aktiv erlebt hatte – also drei Schuss pro Weltkrieg. Das war das Optimum. Mehr gab es nicht. Nicht einmal für Träger des EK I.

      Das galt aber nur für Beerdigungen. Der Sommer, in dem Monsignore Köberle vom Heustock direkt in die Ewigkeit fiel, war auch der Sommer einer großen Entdeckung. Zusammen mit einigen Schulkameraden fand ich nämlich ein hübsches Waffenlager, das uns die SS zur Verfügung gestellt hatte, ehe sie sich der Übermacht unter Panzergeneral Patton ergab. Genauer gesagt handelte es sich um einige Kisten mit Karabinern, Handgranaten, MG-Munition und einer Panzerfaust. Da wir uns für ausgewiesene Waffenexperten hielten und jeder den anderen mit noch genaueren Kenntnissen über die Handhabung übertreffen wollte, versuchten wir zunächst, die Handgranaten beim Forellenfischen einzusetzen. Den Ring ziehen, bis drei zählen, werfen. Die jeweils entstehende Wasserfontäne war in jedem Fall höher als der anglerische Ertrag. Bei den Karabinern stellten wir zu unserem größten Bedauern fest, dass deren Repetier-Schlösser eingerostet waren. Blieben nur noch die Panzerfaust und die MG-Munition. Aufgrund einer unverzeihlichen Indiskretion seitens eines geschwätzigen Kameraden, der sich wichtigmachen wollte und den Mund nicht halten konnte, gelangte das Geheimwissen jedoch an meine Tante Mirtel, die sogleich die SS-Rückstände requirierte und wegsperrte, uns in einer Reihe antreten ließ und uns anfänglich ganz leise, schließlich aber mit unglaublichem Kasernenhofgebrüll zur Sau machte. Nie zuvor und auch nie mehr danach habe ich diese Frau derart in Rage erlebt. Was sie besonders herausstrich war der Umstand, dass wir soeben im Begriff waren, die MG-Munition auf einen Amboss zu legen, um unter Aufbietung aller gemeinsamen Kräfte, denn nur gemeinsam waren wir stark, den schweren Vorschlaghammer darauf hernieder fahren zu lassen. Dazu hätte Radio Beromünster den Schlager des Sommers gespielt: „Kein Land kann schöner sein“, gesungen von René Carol. Hierzu passend besonders die markante Strophe, in der es heißt: „Und in den Wäldern, da hört man's raunen, bald kommt sie wieder, die alte Zeit.“

      Mir jedoch gefiel seinerzeit „Tiritomba“ viel besser, gesungen von Margot Eskens. Bei einer Strophe musste ich stets ein wenig schlucken, wenn es hieß: „Eines Tages aber kam er nicht mehr wieder, es verklangen all die Lieder.“ Überhaupt: Margot Eskens, eine sanftäugige Zahnarzthelferin aus dem Rheinland, die nunmehr die Titelseiten der Illustrierten des Lesezirkels schmückte und deren Blick jenen nebulösen Hang zum Melancholischen verhieß, der einem in der Pubertät bisweilen so gut tut. Sie wurde mein erster heimlicher Schwarm. Margot Eskens! Das war schon ein anderes Kaliber als die Damen Vogelsang mit ihrem herben Ostsee-Charme, der vermutlich auf nichts anderem beruhte als auf einer gewissen adeligen Einfältigkeit, wie sie heute nicht einmal mehr den blaublütigen Gattinnen pomadiger Politiker zur Verfügung steht.

      Als dann die Damen Vogelsang im Spätherbst mit dem üblichen Getöse, den mehrfach vom Karren polternden Schrankkoffern, dem hektischen Suchen nach Regenschirmen und Fahrkarten und unter Anteilnahme der Blaskapelle sowie einer Ehrenabordnung der Freiwilligen Feuerwehr wieder abreisten, schwiegen auf einmal die sonst den ganzen Sommer über zirpenden Grillen, und die Schwalben, die so hoch geflogen waren, kehrten im nächsten Frühjahr ebenso wenig zurück wie die Damen aus dem Baltikum. Kein Zweifel: die drei Ladies haben sie mit sich genommen, und mit den Grillen und den Schwalben zugleich den Zauber meiner Kindheitssommer.

      Was ich damals nur dunkel ahnen konnte, kann ich heute mit hundertprozentiger Gewissheit beschwören: Solche Bäume wachsen nicht mehr. Diese mir unvergesslichen Damen Vogelsang haben sich in das Schicksalswissen, einer untergehenden Spezies anzugehören, hineingewickelt wie in ihre zahllos übereinander getragenen rosafarbenen Unterröcke und wehenden Reformgewänder. Und sie trugen dieses Wissen mit der ihnen eigenen Würde. In ihrem Stolz wussten sie, dass bald die ganze Welt über sie hinweg trampeln würde, denn mit diesen drei liebenswerten Vogelscheuchen irgendwo aus dem hohen Norden, von denen niemand weiß, was aus ihnen geworden ist, starb eine ganz bestimmte Gattung der Sommerfrischler. Es war jene Spezies, die in Habitus und Kleidung einem geheimnisvollen Ritual gefolgt war, das mit seinem bescheidenen Glanz für jeden heutigen Touristen und dessen verwöhnte Ansprüche ein ewiges Enigma bleiben wird. Das bezaubernd Rätselhafte daran liegt nämlich weit jenseits der Verstehensgrenze jener, die sich zwar unendlich wichtig vorkommen, dabei aber ihre eigene Bedeutungslosigkeit so wenig erkennen wie ihre Vulgarität.

      Madame Schaumlöffl

      Ungelogen: Sie hieß wirklich Schaumlöffl, Maria Magdalena Schaumlöffl, und sie war das einzige Kind des Zuckerbäckers August Schaumlöffl und seiner Ehefrau Martha, geborene Sterzel. Wer damit angefangen hat, das Fräulein Schaumlöffl mit Madame anzusprechen, ist heute nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit zu eruieren. Möglicherweise hatte meine Tante Mirtel die Hände im Spiel, denn sie liebte solche Spötteleien. Genaues weiß man nicht, aber ich habe da so einiges munkeln hören. Und es wäre auch nicht die erste Angelegenheit gewesen, bei der sie im Hintergrund nicht tüchtig mitgemischt hätte. Fest steht nur, dass sich diese Form der Anrede rasch etablierte und, wie übereinstimmend befunden wurde, der Respekt gebietenden Erscheinung der tüchtigen Geschäftsfrau sogar durchaus angemessen war.

      Madame Schaumlöffl also, eine glänzend im Strumpf stehende Enddreißigerin, die wie eine resche Mittzwanzigerin aussah, war durch Schleckereien reich geworden. Sie hatte bei ihrem Vater, einem weithin angesehenen Zuckerbäcker, das Handwerk gründlich gelernt und eines Tages, als der Alte begann, die Zutaten zu verwechseln, das elterliche Geschäft übernommen und zu dem gemacht, was es heute in der Welt der Feinschmecker ist: ein Begriff. Wo immer Madame Schaumlöffl aufkreuzte, und es gab eine Zeit, in der sie kein gesellschaftliches Ereignis zwischen Bayreuth und Salzburg ausließ, tuschelte