Kenei Mabuni

Leere Hand


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sagen, aber genau dies ist der Ausgangspunkt des Karate als Budō, als Weg des Kampfes oder des Kriegers. Aber man möge dabei bedenken, daß man, wenn man solche Techniken übt, grundsätzlich nichts anderes tut als Soldaten, die sich Tötungstechniken zur Verteidigung ihres Vaterlandes, des Landes ihrer Vorfahren, aneignen.

      Die Techniken zur »minimalen« Selbstverteidigung, also jene Techniken, die nicht den Tod des Gegners bezwecken, wurden demzufolge aus Techniken zum Töten von Menschen entwickelt.

      Der Mann, den man später den »Ahnherren der Erneuerung des Karate« nannte, war Itosu Ankō (1830-1916), auch Yasutsune genannt. Er war der größte Meister des Shuri-te, das die ursprünglichen okinawanischen Kampftechniken mit der bloßen Hand, die te, repräsentiert.4 Meister Itosu reorganisierte das Karate, als es in der Meiji-Zeit offiziell Eingang in die reguläre Mittelschulbildung fand.

      Meister Itosu wählte traditionelle Techniken aus und gestaltete sie um. Orientiert an den Idealen der modernen Körpererziehung wurden lebensgefährliche Techniken ersetzt durch technische Abläufe, die bewegungsreich und hinsichtlich der Körpererziehung effektiv waren. So war die Sequenz vom Querfeger (yoko barai) zum Tritt (keri) in der Kata Passai dai ursprünglich eine Bewegungsfolge von einem Stich in die Augen mit den Fingern der offenen Hand (kaishu metsubishi) zu einem Tritt in die Genitalien (kinteki). Von Itosu Ankō stammt beispielsweise die Gruppe der fünf Kata Heian, die noch heute sehr beliebt sind. Entsprechend der Bedeutung des Begriffs Heian (Frieden und Ruhe) enthalten diese Kata keine Angriffe auf sogenannte »goldene Ziele«, d. h., auf Genitalien oder auf andere Vitalpunkte, oder gefährliche Techniken wie den »Augenzerquetscher« (metsubishi).

      Auf ähnliche Weise ist Kanō Jigorō (1860-1938) vorgegangen, als er aus dem überlieferten Jūjutsu alle Würfe (nage waza) und Schläge (atemi) eliminierte, mit denen man töten konnte, und so das Kōdōkan-Jūdō entwickelte. Dies waren Ergebnisse, wie sie die Bewegung zur kulturellen Reform (bunmei kaika) im Prozeß der Modernisierung Japans angestrebt hatte.

      Allerdings blieben im Shitō-Karate viele alte Kata erhalten. Und auch in den von Meister Itosu reformierten Kata waren etliche Techniken verborgen, die nur mündlich als Geheimwissen überliefert worden waren, darunter einige recht grausame Tötungstechniken. Einer meiner engagiertesten Schüler, Terada, leitete manchmal das Training im Schul-Karateverein, dem auch sein Sohn angehörte. Er erzählte mir einmal lachend, daß sein Sohn sich beschwert habe: »Papa, dein Karate ist immer gegen die Regeln!« Das berührt die Frage, ob man solche gefährlichen Techniken wirklich lernen muß, ob also eine kampftechnische Ausbildung sinnvoll ist, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Wie bereits erwähnt, gehört der Angriff im Rahmen der Verteidigung zum Wesen des Karate. Tatsächlich gibt es einen Grenzbereich beim Studium des Karate, in dem es darum geht, Kampftechniken beherrschen zu lernen, mit denen man auf sehr effektive Weise töten kann. Damit begibt man sich in die Welt des Budō. Dieses Problem ist der wichtigste Gegenstand dieses Buches. Zunächst möchte ich mich aber zu heutigen Werten und zur allgemeinen Funktion des Karate äußern.

      Bereits vor meiner Geburt hatte mein Vater sein Leben der Entwicklung des Karate als Methode der Körpererziehung verschrieben. In der Öffentlichkeit nannte man ihn »Mabuni, der Techniker«. Als Erbe der authentischen okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand (te) galt er allgemein als außerordentlicher Experte. Sein Ziel bestand darin, Karate als Methode der Gesundheitsförderung zu verbreiten und damit zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation der breiten Bevölkerung beizutragen.

      Im Unterschied zu anderen Kampfkünsten kann man im Karate seine körperlichen Fähigkeiten auf der Basis von Kata trainieren. Insgesamt gibt es etwa 50 klassische Kata. So viele muß man natürlich nicht lernen, es sei denn, man will selbst Karate lehren. Kata bestehen aus Folgen von Angriffs- und Abwehrbewegungen mit Bezug auf einen imaginären Gegner. Um sie auszuführen, braucht man keinerlei Gerätschaften. Außerdem kann man Kata leicht üben, auch in großen Gruppen und verbunden mit viel Freude. Manche Anfänger haben Angst vor Kataübungen mit einem realen Gegenüber, d. h., vor dem Training mit Partner (kumite). Aber wenn man Karate nur betreibt, um seine Gesundheit zu fördern, ist es gar nicht erforderlich, sich mit dem kumite auseinanderzusetzen. Man benötigt auch nicht viel Platz, um eine Kata auszuführen. Eine Fläche von 3½ bis 4 Tatami-Matten, d. h., etwa 7-8 m², ist ausreichend.

      Das von meinem Vater entwickelte Shitō-Karate enthält die traditionellen Kata des Shuri-te und des Naha-te, der beiden wichtigsten Stilrichtungen der okinawanischen Kampfkünste mit der bloßen Hand. Was die einzelnen Techniken angeht, so sind die Unterschiede zwischen beiden nicht allzu groß. Es ist jedoch für die Kata des Shuri-te charakteristisch, daß sie viele effektive und schnelle Angriffs- und Abwehrbewegungen für einen Kampf auf lange Distanz enthalten. Typisch für das Naha-te sind dagegen der Nahkampf mit »schweren« Bewegungen und spezielle Atemtechniken, die aus dem chinesischen Fukien-Kempō5 stammen. Diese große Spannweite ermöglicht es, daß man ohne weiteres für jedes Alter, jeden Körperbau und jeden physischen Zustand geeignete Kata finden kann. Das ist der große Vorzug des Shitō-Karate.

      Lange Kata enthalten etwa 70 Techniken, kurze Kata etwa 20. Eine kurze Kata dauert nicht länger als eine Minute. Es gibt keinen Teil des Körpers, der beim Üben von Kata nicht bewegt wird, und die Resultate lassen sich schon sehr bald erkennen. Männer bekommen einen ausgewogenen, starken Körper, und für Frauen ist es ein ideales Schönheitstraining. Da man weder einen besonderen Raum noch Gerätschaften oder spezielle Kleidung braucht, gibt es keine einfachere Methode, einen guten Gesundheitszustand zu schaffen. Selbst sehr beschäftigte Leute sollten die wenigen Minuten erübrigen können, die nötig sind, um sich mit dieser Methode fit zu halten. Manch einer mag nun einwenden, daß er hierfür zu alt sei. Tatsächlich jedoch kann man prinzipiell in jedem Alter mit dem Training beginnen. Ein paar Minuten Katatraining jeden Tag können ein langes Dasein garantieren. Nahezu alle Karate-Meister, ob aus Okinawa oder von den japanischen Hauptinseln, erfreuten sich eines langen Lebens.

      Mich selbst könnte man als lebendiges Beispiel nehmen. Ich bin jetzt 83 und war niemals ernsthaft krank. Mehrmals im Jahr fahre ich als Trainingsleiter ins Ausland. Die Zeitverschiebung spüre ich nie und trainiere immer gleich am folgenden Tag zusammen mit den jungen Leuten.6

      1938 publizierte mein Vater das Buch »Einführung in die Angriffs- und Abwehrtechniken im Karate«.7 Das Werk enthält verschiedene Aussagen über die Auswirkungen des Trainings, wie z. B.: »Durch das Karate bereiten auch alle anderen Aktivitäten mehr Freude«, »Physisch schwache Personen können zu Hause trainieren und dadurch stark werden«, »Kranke und dicke Personen bekommen kräftige Muskeln und werden gesund«, »Man trinkt abends immer weniger Alkohol und arbeitet tagsüber effektiver« und »Nervenschmerzen und Nervenschwäche werden kuriert«.

      Es lag meinem Vater am Herzen, Karate als hervorragende Methode der Gesundheitsförderung zu propagieren. In Zusammenarbeit mit einer medizinischen Universität gelang es ihm, die positiven medizinischen Wirkungen nachzuweisen, u. a. anhand von Blut- und Urintests. Sein Buch enthält auch Auszüge aus einem Forschungsbericht von Marineärzten, die die physiologischen Wirkungen des Karate beschrieben. Diesem zufolge fördert Karate den Stoffwechsel und die Nervenreflexe. Gleichgewichtswahrnehmung und Muskelkraft werden verbessert, und es kommt zu einer Harmonisierung des gesamten körperlichen Zustands. Damit war der positive Einfluß des Karatetrainings auf den Körper hinreichend belegt.8

      Das Buch erschien, nachdem mein Vater zehn Jahre auf der japanischen Hauptinsel gelebt und dort für die Verbreitung des Karate gewirkt hatte. Das Karate, das mein Vater von Okinawa mitgebracht hatte, war sehr spirituell und religiös. Leider ist das heutige Karate in diesem Punkt weit von dem entfernt, was mein Vater damals verbreiten wollte. Die spirituell-seelische Erziehung sollte der auf Selbstverteidigung orientierten kampftechnischen Ausbildung nutzen. Am Ende des Buches schrieb er: »Wenn Sie wirklich einmal in eine Situation kommen, in der dies nötig ist, dann werden Sie handeln