Kenei Mabuni

Leere Hand


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      Ich machte in meinem Leben mehrfach die Erfahrung einer spontanen Reaktion des Körpers auf eine plötzliche Gefahr. Als ich 16 oder 17 war, fuhr ich mit einem Freund an den Shirahama-Strand in der Präfektur Wakayama. Wir wollten die Aussicht von Senjōjiki genießen. Ich stand mit dem Rücken zum Meer und war gerade dabei, den Gürtel meiner Badebekleidung straffzuziehen, als plötzlich eine riesige Woge über mich hereinbrach und mich gegen einen Felsen schleuderte. Mein Freund, der die Welle kommen gesehen hatte, war weggerannt. In dem Moment, als ich begriff, daß eine Welle mich verschlungen hatte und mein Körper ein Spielball des Wassers geworden war, krallte ich mich instinktiv an den Felsen, gegen den die Brandung mich geworfen hatte. Hätte mich die Welle wieder ins Meer gesogen, wäre ich wohl nicht mehr lebend herausgekommen. Nicht wenige haben auf diese Weise ihr Leben verloren.

      Später, gegen Ende des Großen Ostasiatischen Krieges9 war ich auf der philippinischen Insel Cebu stationiert. Die amerikanischen Truppen waren bereits mit großer Angriffswucht gelandet. Deshalb mußten wir zusammen mit den hier lebenden Japanern ins zentrale Hochland der Insel flüchten. Wir konnten nur nachts marschieren, denn tagsüber kreisten amerikanische Hubschrauber über der Gegend. Wir marschierten also in absoluter Dunkelheit, eine Hand am Gürtel oder auf der Schulter des Vordermannes. Plötzlich rutschte ich ab und stürzte einen Abhang hinunter. Als ich wieder zu mir kam, saß ich vier oder fünf Meter tiefer und hielt meinen Tornister umklammert. Ich war erstaunlicherweise unverletzt. Ich sagte zu mir selbst: »Ist vielleicht nicht so gut, zurückzubleiben«, kletterte den Hang schnell wieder hinauf und schloß mich den anderen an. Auch damals dachte ich, wie gut es doch sei, Karate zu trainieren. Denn auch diesmal hatte mein Körper offensichtlich spontan auf die plötzliche Gefahr reagiert und es vollbracht, daß ich den tiefen Sturz unbeschadet überstand.

      Auch in vielen anderen weniger dramatischen Situationen wurde mir zutiefst bewußt, daß ich ohne Karate vielleicht mein Leben verloren hätte oder zumindest schwer verletzt worden wäre. Vielleicht wird manch einer einwenden, daß ich das gewiß nur mit einem speziellen Training erreicht habe. Das stimmt aber nicht. Jeder, der Karate ernsthaft und kontinuierlich trainiert, kann das erreichen.

      Da Karate immer mehr als Wettkampfsport betrieben wird, hat die Zahl der Frauen, die Karate vor allem zur Selbstverteidigung trainieren wollen, stark abgenommen. Aber neben der Gesundheitsförderung ist die Selbstverteidigung das ursprüngliche Ziel und nach wie vor eine wichtige Funktion des Karate.

      Als mein Vater an der Meijō-Mädchenschule Karate unterrichtete, entwickelte er eigens zwei Kata für die Selbstverteidigung von Mädchen, die Meijō, »heller Stern«, benannt nach der Schule, und die Aoyagi, »grüne Weide«, Ausdruck von Eleganz und Sanftheit. Diese Kata sind sehr auf den realen Kampf ausgerichtet. Sie enthalten Techniken gegen typische Angriffe, wie z. B. plötzliche Umklammerung von vorn oder hinten, oder auch Techniken, die die Energie des gegnerischen Angriffs nutzen. Aber solche kurzen, kampforientierten Kata sind für Wettkämpfe nicht besonders geeignet und deshalb heute leider nicht mehr so beliebt.

      Vor kurzem las ich einen Artikel in der Zeitung Asahi Shimbun, in dem darüber berichtet wurde, daß ein Mittelschüler in Ōsaka, der in seinem Haus von einem Einbrecher mit einem Messer angegriffen wurde, dem Angriff auswich und so die Chance bekam, wegzurennen. Dem Reporter sagte er danach: »Als ich das Messer sah, reagierte mein Körper ganz spontan. Ohne mein Karate-Training wäre ich sicher vor Angst erstarrt.«

      Um Karate zur Selbstverteidigung zu nutzen, reicht es nicht, die einzelnen Techniken zu erlernen. Man muß auch eine bestimmte seelische Energie, ki,10 entwickeln, um seine Fähigkeiten genau in dem Moment zu mobilisieren, in dem sie gebraucht werden, nämlich, wenn man einer plötzlichen Gefahr begegnet. Ohne diese Energie kann man die Techniken nicht einsetzen, wie oft man sie auch geübt haben mag. Deshalb ist die psychische Entwicklung so wichtig.

      Unter den Kampfkünsten wird gerade das Karate als Kampfkunst der Seele (ki no Budō) bezeichnet. Natürlich ist das ki nicht nur im Karate wichtig. Auch im Jūdō, Kendō oder Iaidō wird die seelische Energie entwickelt. Denn damit bereinigt man jede Art seelischer Unruhe und erlangt die Fähigkeit, die gesamte psychische Kraft auf einen Punkt zu konzentrieren. Da Karate darauf zielt, seinen eigenen Körper mit leeren Händen zu verteidigen, ist flexible seelische Energie, mit der man auf plötzliche Gefahren spontan reagieren kann, das wichtigste.

      Selbstverständlich hat auch die physische Kraft Einfluß auf die Entwicklung. Grundsätzlich kann man sagen, daß Menschen, denen es an körperlichem Selbstvertrauen fehlt, anfällig sind für psychische Schwäche. Karate-Training beansprucht den ganzen Körper. Deshalb können auch Menschen, die anfangs physisch schwach sind, rasch körperliches Selbstvertrauen gewinnen.

      Wie schüchtern und körperlich schwach man auch gewesen sein mag: Wer Karate ernsthaft betreibt, regelmäßig übt, auch wenn es immer nur ein bißchen ist, wird schnell wahrnehmen, wie sich der Körper mit Energie füllt, wie sich vom Bauchgrund her ein Gefühl des Selbstbewußtseins entwickelt und wie auf natürliche Weise Ruhe im gesamten Körper einkehrt. Das ist das Besondere am Karate.

      Besonders die Atemtechniken des Naha-te (kisoku hō) zeigen, wie das Karate die seelische Einheit fördert.11 Die Atmung ist für alle Kampfkünste wichtig. Aber das bewußte Training der Atmung ist spezifisch für das Karate. Das Atmen, vor allem das Einatmen (iki o suru) ist aufs engste verbunden mit dem Leben. Das japanische Wort für »leben« (iki-ru) soll sogar abgeleitet sein von dem Wort für Einatmen. Menschen können einen Monat ohne Essen überleben. Aber ohne zu atmen lebt man bekanntlich nicht allzu lange.

      Wird man in einer gewalttätigen Auseinandersetzung nervös, hat man schon verloren. Solch eine Nervosität kommt von Puls- und Blutdruckstörungen, die wiederum von Störungen der Atmung hervorgerufen werden. Aus diesem Grund sind manche Menschen auch aufgeregt, wenn sie vor einer Menschenmenge stehen. Laufen die Dinge nicht so, wie man es sich vorgestellt hat, fühlt man sich meist niedergeschlagen, deprimiert. Ohne daß man es merkt, wird auch die Atmung kurz und flach und geht kaum tiefer als bis zum Hals. Im schlimmsten Fall atmet man sozusagen nur noch mit der Nasenspitze. Wird solch eine Atmung zur Gewohnheit, braucht man nicht zu erwarten, mit einem langen Leben gesegnet zu werden.

      Um die Seele zu harmonisieren, muß man die Atmung harmonisieren. Durch eine Atmung, die tief in den Bauch hineingeht, ordnen sich die Energien im Unterbauch. Wenn dort alles »ruhig sitzt«, kann man sich Hoffnung auf ein langes Leben machen. Die Wirkung richtigen Atmens erhöht sich natürlich, je besser die Atemregeln verstanden und bewußt befolgt werden. Bekanntlich gibt es mehrere Atemlehren, wie z. B. im Yoga oder im Qi Gong, die ich auch studiert habe. In diesen Lehren gilt das Anhalten des Atems (taisoku) als schädlich. Nach der Atemlehre des Karate ist es aber sehr sinnvoll. Es stärkt das Herz und fördert die Flexibilität der Atmung. Ich bin schon über 80, habe aber keinerlei Probleme beim Treppensteigen und komme nie in Atemnot.

      Beim Karate-Training entwickelt man sich physisch, kampftechnisch und psychisch. Da diese drei Aspekte der Ausbildung in den Kata miteinander verknüpft sind, entwickelt man sich mit dem Katatraining selbstverständlich auch in dieser dreifachen Hinsicht. Solch eine Entwicklung ist ein Vergnügen, und zwar eines, das niemals enden muß.

      In der Edo-Zeit (17.-19. Jh.) wurden die Samurai des Fürstentums Nabeshima im heutigen Saga auf der Insel Kyūshū auf der Grundlage des Hagakure12 ausgebildet, eines berühmt gewordenen Moral- oder Verhaltenscodex. Das erste, was ein Samurai zu beherzigen hatte, bezog sich auf seine Einstellung zum Älterwerden. Diese erste Lehre besagte, daß das Üben niemals endet. Wie gut man auch sein mag, es gibt keinen Grund zum Dünkel. Wie hoch man auch in der Hierarchie steigen mag, das Lernen hat kein Ende. Ein wirklicher Meister folgt seinem Weg ohne Ende und versucht Tag für Tag, sein ganzes Leben lang, sich zu verbessern.13

      Wer nur übt, um gegen andere zu gewinnen oder besser zu sein als andere, der übt sozusagen auch für andere. Das ist nicht