Gegner tödlich zu verletzen und zwar nicht mit einer Waffe, sondern mit den bloßen Händen. Aus diesem Grund wird der gesamte Körper aufs äußerste für den Kampf vorbereitet, all seine Bestandteile und Funktionen werden dabei einbezogen. Während des Waffenverbots unter der Shimazu-Herrschaft wurde das aus alter Zeit stammende Wissen darüber, wie man ohne Waffen auf Leben und Tod kämpft, genau überliefert. Allerdings wurde das Wissen ausschließlich mündlich weitergegeben. Die Techniken waren in den Kata enthalten. Da man diese für sich allein übte, war es nicht notwendig, irgendwelche Schläge oder Tritte wegen ihrer Gefährlichkeit zu verbieten. Auf diese Weise ist Karate zu einer weltweit einzigartigen Kampfkunst geworden.
Dazu schrieb mein Vater im Jahre 1938 folgendes:
Wenn es Leute gibt, die glauben, man müsse, um mit der Zeit zu gehen, die Kata und das kumite des Karate in Sport verwandeln, sie unter dem Vorwand der Körperertüchtigung von ihrem Wesen als Bujutsu, als Kampfkunst ablösen, so muß man diesen Leuten sagen, daß sie offenbar nicht erkennen, daß sie damit den ersten Schritt machen zu einem unglaublich schwerwiegenden Fehler, nämlich zur Auflösung der Werte des Karate als Bujutsu, als Kampfkunst. Sicher muß man auch beim Kata- und kumite-Training die Bewegungen der Arme und Beine bis ins kleinste streng bewerten und korrigieren, aber vom Standpunkt der Kampfkunst aus gesehen. Physiologisch-rationale vorbereitende und unterstützende Übungen, die dazu dienen, die Funktionen des Bewegungsapparates und der inneren Organe zu optimieren, können in das Training einbezogen werden. Man darf aber nicht glauben, man könne den Kampfkunstgehalt des Kata- und des kumite-Trainings vervollkommnen, indem man beides in Sport oder Vergnügung verwandelt.
Mein Vater sah damit in gewisser Weise die heutige Form des Karate voraus und warnte vor dieser Entwicklung. Die Verwandlung des Karate in einen Wettkampfsport ist auch eines der großen Themen dieses Buches. Bevor ich mich dazu konkreter äußere, möchte ich noch etwas über die Geschichte des Karate sagen.
1.2 Das Karate von Okinawa
Das ursprüngliche Okinawa-te
Auf Okinawa entwickelten sich drei spezielle Stile des Karate, und zwar in Shuri, Naha und Tomari.33 Der Begriff Karate wurde in den Jahren 1911/1912 eingeführt, als das »Okinawa-Boxen« bzw. die »Okinawa-Hand« (Okinawa-te) zum Pflichtfach an den japanischen Mittelschulen wurde.
Man schrieb Karate zunächst mit den Zeichen für »Tang-China« (China in der Tang-Zeit) und »Hand«. Wie bereits erwähnt wurde, bezeichnete man die überlieferte heimische Kampfkunst auf Okinawa nur als »Hand« (te), das chinesische Kempō wurde hingegen tō-de genannt, also »tang-chinesische Hand«. Die lokalen Stile hießen entsprechend Shuri-, Naha- und Tomari-Stil bzw. Shuri-te, Naha-te und Tomari-te. Shuri-te ist die älteste dieser Stilrichtungen. Die aus Shuri stammende Kampfkunst ist die ursprüngliche okinawanische Technik des Kampfes mit der bloßen Hand, ein System von Kampftechniken, das sich, beeinflußt vom chinesischen Kempō, eigenständig entwickelt hat. Unter den alten Karatelehrern auf Okinawa war der stolze Spruch verbreitet: »Die einzig wahre Hand (te) ist das Shuri-te.«34 Der jüngste Stil ist das Naha-te. In diesem Stil sind die Formen des chinesischen Kempō am deutlichsten erhalten. Tomari-te liegt sowohl geographisch als auch technisch dazwischen.
Mein Vater erhielt im Alter von 13 Jahren durch Vermittlung eines Bekannten die Erlaubnis, in eine der großen Kampfkunstschulen einzutreten. Der Leiter dieser Schule war Itosu Ankō. Aus dem Kreis der Schüler von Meister Itosu stammen viele der bekannten Persönlichkeiten, die zur Herausbildung des modernen Karate beigetragen haben. Von Itosu wird berichtet, er habe entsprechend seiner allmorgendlichen Tagesplanung jeden Tag mehrere hundert Mal gegen um Holzpflöcke gewickelte feste Strohbündel (makiwara), die man auch als Bogenziele verwendet, eingeschlagen. Seine Fäuste waren so abgehärtet, daß sie schwarzen Steinen geglichen haben sollen. Meister Itosu soll einen sehr muskulösen Körper gehabt haben. Darüber gibt es verschiedene Anekdoten. Schlug man beispielsweise mit einem Rundholz gegen seine dicken Oberarme, dann prallte der Knüttel zurück, ohne daß Itosus Arme auch nur zuckten. Ein dickes Bambusrohr konnte er ohne Mühe mit einer Hand zerquetschen, und er war so stark, daß er sich an den Deckenbalken durch den Raum hangeln konnte.
Zu jener Zeit war Karate noch nicht so verbreitet wie heute, und die Trainingsräume (dōjō) waren meist recht einfach. Häufig wurde der eigene Garten zum dōjō, und es war üblich, im Freien zu trainieren. Als Kind sah ich meinem Vater oft beim Training zu. Im Garten, unter dem Licht einer nackten Glühbirne, schlug er mit freiem Oberkörper auf ein makiwara ein. Seine Muskeln stählte er mit Hilfe von Steingewichten.
Meister Itosus dōjō stand nicht jedem offen. Nur ein ausgewählter Kreis von Schülern wurde von ihm unterrichtet. Als mein Vater 19 war, erhielt er von Meister Itosu die Erlaubnis, auch bei Higaonna Kanryō (1853-1916), einem Meister des Naha-te, Unterricht zu nehmen. Dieser war als junger Mann in der chinesischen Provinz Fukien gewesen und hatte das dortige Kempō studiert. Nach seiner Heimkehr entwickelte er auf dieser Grundlage den Naha-Stil. Miyagi Chōjun, der spätere Begründer des Gōjū ryū, führte meinen Vater bei Higaonna Kanryō ein. Beide wurden Meisterschüler von Higaonna. Man nannte sie »Drachen und Tiger«, und beide sollte eine lebenslange Freundschaft verbinden.
Außer dem Shuri-te und dem Naha-te studierte mein Vater auch den Tomari-te und andere Techniken des alten Ryūkyū-Budō. Von Meister Aragaki Seichō (1840-1920) lernte er Techniken mit dem bō, von Tawada Shinkatsu (1851-1920) Messertechniken und von Meister Soeishi Yoshiyuki spezielle Stocktechniken.
Foto 3: Higaonna (Higashionna) Kanryō (1853-1916). Er war der bedeutendste Vertreter des Naha-te.
Foto 4:Miyagi Chōjun (1888-1953). Schüler und Nachfolger Higaonnas, Gründer des Gōjū ryū.
Die Kata des Shuri-te
Karate ist eine Selbstverteidigungstechnik, die auf Okinawa seit dem 17. Jahrhundert, dem Anfang der Tokugawa-Ära, entwickelt und geheim überliefert wurde. Es diente dazu, sich mit bloßen Händen gegen mit Schwertern bewaffnete Gegner behaupten zu können. Das war, wie bereits erläutert wurde, vor allem während der Herrschaft der Satsuma-Fürsten wichtig, die den Okinawanern den Besitz von Waffen verboten hatten und jeden Widerstand unterdrückten. Die einzigen Waffen, die im Ryūkyū-Budō verwendet wurden, waren Ackergeräte.
Anders als bei den Schwerttechniken und beim Jūjutsu, welche von der Regierung in Edo und den Fürsten gefördert wurden, gab es zum Karate keine schriftliche Überlieferung. Die Meister des Karate formten die Techniken und Ideen, die auf ihren in gefährlichen Situationen erworbenen Erfahrungen beruhten, zu Kata, d. h., zu bestimmten Bewegungsabläufen, die sich allerdings von den Bewegungsmodellen anderer Kampfkünste unterschieden. Sie ähnelten den »Fausttanz« (genkotsu odori) genannten okinawanischen Tänzen. Während man sich den Gegner im Geiste vorstellte, führte man Schläge, Blöcke und Tritte als Abfolge von Angriffs- und Abwehrbewegungen aus. Das diente wahrscheinlich auch dazu, gegenüber den Behörden den wahren Charakter der Übungen zu verschleiern. Diese Kata sind die einzige Überlieferung des okinawanischen Karate. Indem der Schüler die Kata übt, eignet er sich Techniken und Geist des Karate an. Deshalb bedeutete früher die Aussage,