John Martin Littlejohn

Das große Littlejohn-Kompendium


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In diesem Punkt ist Littlejohn tatsächlich anders. Er betont das mit der Osteopathie Übereinstimmende, im Fall der Homöopathie gerade das sich in ‚Schwingungen‘ äußernde Prinzip der über das Ähnlichkeitsprinzip angesprochenen Lebenskraft – und darin hat er Recht. Andererseits stimmt er mit Still darin überein, dass die Homöopathie eben – nur verdünnt – das gleiche Prinzip anwende, wie die Schulmedizin auch. Darin zeigt sich die Besonnenheit des klaren Denkers Littlejohn, der verschiedene Sachverhalte ruhig unterscheiden und aufeinander beziehen kann.

      Stills Texte sind überwiegend stark metaphorisch, aber sie folgen Littlejohn zufolge einer klaren Position, die Littlejohn natürlich auch durch Gespräche mit Still erfahren hatte. In seiner Verteidigungsschrift gegen die Vorwürfe in der Anhörung im House of Lords22 stellt er das Entstehen und Werden von Stills Position rational nachvollziehbar dar. Offenbar ist dieser Text in der Osteopathie nicht sehr gut rezipiert worden, in den mir bekannten historischen und aktuellen Texten ist hierzu nichts zu lesen. Aber wer die Texte Stills gelesen hat, wird urteilen: So könnte es gewesen sein. Manche Fehlrezeption Stills in der Osteopathie hätte hierdurch möglicherweise vermieden werden können. Vor allem beweist der Text zwingend, dass die Ansicht, eigentlich habe in Kirksville Still eher niemand verstanden, nicht zutreffend ist. Sowohl Carl P. McConnell23 als auch John Martin Littlejohn sind massive Gegenbeispiele hierzu.

      Wie Thomas Fuchs in seiner medizinhistorischen Dissertation überzeugend dargelegt hat24, ist die Kreislauftheorie des Entdeckers des Kreislaufs William Harvey (1587–1657) wahrscheinlich nicht mechanistisch zu verstehen. Die einseitig mechanistische interpretation von Harveys Texten sei ihrer Rezeption durch Descartes (1596–1650) und dessen bedeutender Rolle in der abendländischen Philosophie und Medizin in der Folge zu verdanken. Harvey ist einer der goldenen Bezugspunkte von Still und Littlejohn. Littlejohn zufolge hat Still zunächst ein aufgrund von dessen Lebenserfahrung nicht unverständliches Maschinenmodell des Menschen vertreten, wobei der interessante Punkt gewesen sei, dass Still nicht nur den ganzen Menschen als Maschine verstanden habe, sondern auch jedes Atom als eigene kleine Maschine. Später habe Still festgestellt, dass im Körper tatsächlich lebendige Zellen vorhanden seien – und darin besteht wohl der Übergang zu einer vitalistischen Interpretation des Menschen. Diese Zellen besäßen Labore, die nur aktualisiert werden müssten, um den Menschen fähig zu machen, das zu tun, was er möchte. Dazu müssten die Materialien aus den Laboren distributiert werden, was aber durch die bekannten Fehlstellungen verhindert werden könne – so erklärt Littlejohn die Genese von Stills Theorie der osteopathischen Läsion. Ebenso ist aber der zweite Aspekt in dieser Rekonstruktion von Stills Theorie enthalten, eben die Theorie der Immunität, wie Littlejohn dies mit einem Begriff, den Still nicht kennt, nennt. An sich ist der Mensch vor Krankheit geschützt, dieser Schutz aber könne durch Fehlstellungen gemindert werden, sodass Theorie der Immunität und Theorie der osteopathischen Läsion zusammenhängen.

      Im Kern stimmt auch noch der späte Littlejohn dieser Auffassung zu. Daher bleibt er Impfkritiker und Medikamentenkritiker, wie dies in den frühen Texten aus The Osteopathic World ausführlich u. a. in Auseinandersetzung mit den Anschauungen Robert Kochs dargelegt wird.25

      Die Auffassung von spirit, body und mind bei Still versucht Littlejohn vorsichtig zu korrigieren. Littlejohns Auffassung steht im Kontext der damals modernen Psychophysiologie, wie sie klassisch in William James’ Psychologie dargestellt wird.26 Entsprechend unterschied er mind und body. Beim mind unterschied er weiter zwischen „objective mind“ und „subjective mind“, womit die heute beliebte Unterscheidung der Perspektiven der ersten Person und der dritten Person gemeint ist. Nach Littlejohn befassen sich die Psychophysiologien vor allem mit dem objective mind, dem objektiven Geist, wie er also wissenschaftlich psychophysiologisch, z. T. experimentell beobachtet wird. Demgegenüber gibt es aber noch den subjective mind, den subjektiven Geist27. Nach Littlejohn belebt letzterer den Menschen, das ist recht parallel zur Rede Stills vom spirit bzw. der soul oder der Seele. Diese ‚Belebung‘ findet über neuronale Prozesse im Gehirn statt. Das entscheidende Phänomen ist dabei das Schwingungsphänomen, das Littlejohn im gesamten Körper als (prinzipiell messbaren) Rhythmus oder Arrhythmus feststellt. Darin zeigt sich zeichenhaft die Lebenskraft, die aber nur zeichenhaft-hypothetisch bzw. abduktiv erschlossen ist, einen deduktiven Beweis hierfür gibt es nicht.

      Stills Position wird damit aufgenommen und etwas korrigiert. Aber in der Kombination von Mechanismus mit Vitalismus stimmt Littlejohn ganz überein. Fuchs weist darauf hin, dass die bei Thomas S. Kuhn28 vorliegende Auffassung, dass Paradigmen einander abwechseln, also hier der Vitalismus vom Mechanismus abgelöst werde, keine zutreffende Darstellung der neuzeitlichen Medizinentwicklung sei. Er unterstellt vielmehr, dass unterschiedliche Denkstile29 zeitgleich vorhanden sein können. In der klassischen Osteopathie Stills und Littlejohns liegt sogar der Fall vor, dass sie in einem Konzept kombiniert werden. Dies genauer zu verstehen, soll u. a. die Aufgabe einer künftigen Publikation mit Herrn Christian Hartmann sein.

      PD Dr. Martin Pöttner

       Heidelberg, August 2009

      A. Die Zeit in Kirksville (1898–1900)

      AMERICAN SCHOOL OF OSTEOPATHY

      ABB. A: JOURNAL OF OSTEOPATHY (KIRKSVILLE)

      1. PSYCHOLOGIE UND OSTEOPATHIE

      Journal of Osteopathy (V), 1898, S. 67–72.

      Ich bin gebeten worden, einen Artikel für das vorliegende Journal zu schreiben.30

      Wenn man versucht, die Physiologie aus osteopathischer Sicht so zu erklären, wie wir sie durchnehmen, bleibt wenig Zeit für ernste und tiefe Studien jenseits dieses Themas. Für den Osteopathen kann es jedoch keinen bedeutenderen Gegenstand geben als die Physiologie, weil angewandte Physiologie für die osteopathische Medizin Materia medica und Therapie zugleich ist. Der Herausgeber des Medical Brief stellt fest:

      „Kein Arzt, der nicht gründlich mit der Physiologie vertraut ist, kann ein guter Diagnostiker oder Therapeut sein.“

      Das früheste Stadium jeder Krankheit besteht stets in einer leichten Abweichung von der normalen Funktion. Diese kann sich beispielsweise übertrieben zeigen, und dann liegt ein ausgesprochen anomaler und pathologischer Zustand vor. Wenn irgendein professioneller Mensch ein unabhängiger Denker sein sollte, dann ist es wohl der Arzt. Niemand kann Wissen sein Eigen nennen, bis es Teil seiner Natur wird. Und nur derjenige besitzt tatsächliches wissenschaftliches Wissen, der dieses Wissen durch persönliche Erfahrung erworben hat. Es spielt keine Rolle, wie bedeutend die Autorität ist, die man zitiert. Sofern zur Autorität nicht die subjektive Erfahrung des Zitierenden hinzukommt, wird letzterer schlicht zur Maschine. Ein Automatismus im Bereich der Osteopathie ist sogar noch gefährlicher als im alten medizinischen Bereich. Es versteht sich von selbst, dass es einen gesunden Zustand gibt, wenn das System einschließlich Körper und Geist strukturell und funktionell vollkommen und ohne Durcheinander ist. Taucht jedoch irgendeine Abweichung auf, muss der Osteopath sie entdecken, um letztlich erfolgreich behandeln zu können. Eine unvollkommene Diagnose impliziert, dass die Behandlung zum Experiment wird.

      Die Wissenschaft der Medizin beschränkt sich eben nicht auf das Verschreiben von Medikamenten und auf die Kenntnis von Arzneimitteln. Das ist eine degenerierte Vorstellung von Medizin. Die Wissenschaft der Medizin befasst sich mit der Erhaltung und Verlängerung menschlichen Lebens und mit der Heilung jener anomalen Zustände oder Krankheiten, die das Leben schwächen oder zerstören. Die Medizin hat in ihrer Geschichte verschiedene Heilungsprinzipien verfolgt. Zuerst war sie mit der Priesterherrschaft verbunden und bestand aus bestimmten zeremoniellen Observanzen. Später bestand sie aus bestimmten magischen Praktiken, die den abergläubischen Charakter des Volkes bestärkten. Bis heute glaubt man von bestimmten Formen und Rezitationen, sie besäßen medizinische Kraft. Bei der aktuellen Definition der Wissenschaft