stromabwärts treiben.«
»Das ist eben Ihre professionelle Deformation«, hielt ihm Grahsen vor.
Das bezog sich darauf, dass Julius Eduard Hitzig, 1780 in Berlin als Isaac Elias Itzig auf die Welt gekommen, vor dem Ruhestand dem Staat als Justizbeamter, Director des Inquisitoriats und Mitglied im Criminal-Rat gedient hatte und neben Zeitschriften zur Strafjustiz auch - gemeinsam mit Willibald Alexis - den Neuen Pitaval herausgab, in dem Hunderte von Criminalfällen veröffentlicht wurden.
Hitzig konnte nichts mehr erwidern, denn in diesem Augenblick brachte die Mamsell einen kleinen Imbiss ins Zimmer, und die Herren schwiegen erst einmal, denn mit vollem Munde sprach man nicht. Danach wurde munter weiterdebattiert, bis Ludwig Tieck die Augen zufielen und mit ihm auch Daniel Grahsen und Konrad von Sandhausen die gastliche Stätte verließen. Gontard, Hitzig und sieben andere Männer blieben noch. Zwei weitere Stunden vergingen, und als Letzter war Julius Eduard Hitzig an der Reihe. Er hatte sich eine recht deftige Stelle ausgesucht.
»Wer wäscht die Nebel fort am Herbstmorgen, wer das schmutzi ge Winterkleid der Erde, und der Frühling steht da vor dem Herrn in seinem reinen Blumenkleide, von würzigen Düften umsäuselt. Des Menschen Hand hat nichts dazu getan.«
»Dechant, ich meine, in jedem guten Haus ist Reinlichkeit die erste Tugend, und wer sich auf Erden nicht gewaschen hat, der kommt auch nicht rein in den Himmel. Wie’s in einem geistlichen Haus steht, das weiß ich nicht, dafür lass ich andere sorgen. Aber wenn ich zu sorgen hätte, wisst Ihr, was ich täte?«
»Nur zu, Base,«, rief der Junker, die Hände reibend, »steckt ihn in den Waschkessel!«
»Ach was, ihn allein! Das müsste ein Kessel sein wie der Müggelsee, und die ganze Klerisei hinein mit allen euren Salben und Öl, Äbte, Bischöfe, Klöster, Nonnen und Mönche. Und Lauge dazu, bitter salzige, und umrühren wollte ich.«
»Kochen, Base! Ein Feuer darunter, das der Gottseibeiuns heizen müsste, sonst werden sie nicht rein.«
»Das Wasser würde schwarz werden schon von euren kleinen Verstecksünden, von der Eitelkeit, der Hoffart, dem Fraß, der Gleisnerei und Spiel und Trunk. Aber Wasser ist genug in der Mark. Abgeschäumt, ich würfe euch in einen neuen See. Da sötte ich aus eure Fleischessünden, doch das ist noch nicht das Größte, eure Habsucht und Herrschsucht und wie ihr verredet und verlästert, und nun wieder umgerührt.«
»Da kann ich den König schon verstehen, lieber Willibald Alexis, dass er Sie nicht sonderlich schätzt«, begann Gontard die Diskussion dieser Textpassage. »Da hat er gerade für die Katholiken den Weiterbau des Kölner Doms auf den Weg gebracht und will nun uns Protestanten mit einem gewaltigen Berliner Dom beglücken - und Sie polemisieren gegen den geistlichen Stand. Da möchte man doch …«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick kam Laetitia Perceval völlig aufgelöst ins Zimmer gestürzt und rief, ehe sie in Ohnmacht fiel: »Man hat unsere Mamsell erstochen! Im Keller! Schrecklich zugerichtet liegt sie da in ihrem Blut.«
Drei
Albert Bölzke bummelte durch die Stadt und suchte nach Cigarrenresten, die jemand weggeworfen hatte. Manchmal war es die Hälfte einer Havanna, deren Geschmack einem Banquier oder Dandy nicht zugesagt hatte, meist aber nur ein schäbiger Stummel. An manchen Tagen war das Rauchen für Bölzke Frühstück, Mittag- und Abendbrot, da der Tabak eine Zeitlang den Hunger beschwichtigte. Eigentlich war er von Beruf Herumtreiber und Tunichtgut, aber da er bei den Behörden als Dienstmann registriert war - mit der Konzessionsnummer 52, die auf einem Messingschild zu sehen war, das er um den Arm trug –, konnte ihn kein Constabler mitnehmen und ins Armenhaus sperren. Zudem war er in gewisser Weise unantastbar, seitdem Adolf Glaßbrenner mit seinem Volksstück Eckensteher Nante im Verhör, das 1832 im Königsstädtischen Theater uraufgeführt worden war, Leute wie ihn gleichsam zu Berliner Originalen gemacht hatte und manch einer zu singen pflegte:
Det beste Leben hab ick doch, ick kann mir nich beklagen,
pfeift ooch der Wind durchs Ärmelloch, det will ick schon verdragen.
Det Morgens, wenn mir hungern tut, ess ick ne Butterstulle,
dazu schmeckt mir der Kümmel jut aus meine volle Pulle.
Glaßbrenners Vorbild, den Eckensteher Nante, eigentlich Ferdinand Strumpf, geboren 1803, hatte Bölzke gut gekannt, waren sie sich doch an der Ecke Königs- und Neue Friedrichstraße oft über den Weg gelaufen und hatten sich in der nahen Destillation Eulner einen genehmigt.
In der Brüderstraße gelang es Bölzke, einem Bäckerjungen ein fast verbranntes Weißbrot abzuluchsen, das seinen gröbsten Hunger stillte, aber es gelüstete ihn auch nach etwas Fleischlichem, und so pfiff er einer dicken Mamsell hinterher, die mit einem großen Korb in der Hand dem Markt zustrebte.
Kaum hatte er seinen Pfiff ausgestoßen, da riss ein Kumpan, der dicht hinter ihm ging, heftig an seinem Ärmel. »Pass uff, Albert, dette dir nich verdächtig machst!«
»Wieso’n dit?«
»Weil se letzte Nacht ’ne Köchin umjebracht ham, abjeschlachtet wie dem Tillack sein Schwein.«
Bölzke grinste. »Ach, du meinst die Amalia Matschke bei dem Schreiberling da im Kella, dem Alexis. Det war ick doch selba, und nu versuche ick, den Criminal-Commissarius zu täuschen.«
Heinrich machte ein verdutztes Gesicht. »Vasteh ick nich.«
»Na Mensch, is doch klar wie Kloßbrühe: Der Werpel, der denkt doch nu, der Bölzke, der kann et nich jewesen sein, sonst wära nich so dämlich und pfeift die Weiba weita hintaher.«
»Ick bewundere dir, Albert! Wat du so allet an Jeist im Koppe hast! Aba wenn de eenen jesoffen hast, biste wie’n Tier.«
Bölzke hörte das gerne und setzte seine Runde fort. Er kam sich dabei vor wie ein Fuchs, denn wie der durch Wald und Feld, so streunte er durch Berlin, immer auf der Suche nach einer Beute - und sei sie noch so klein. Fernerhin genoss er das Berliner Straßenleben wie ein fortlaufendes Theaterstück.
In der Poststraße streifte ein Schornsteinfeger ein Dienstmädchen, das mit einem blau-weißen Umhang unterwegs war, und das keifte: »Ochse, mach er mich nicht weiß, er oller Müllergeselle!«
Bölzke sah auf dem Werderschen Markt Dr. Kußmaul mit dem reichen Tuchhändler Damaschke stehen.
»Wat würden Se mir raten, Herr Dokta? Ick bin 69, aber bei bester Gesundheit, habe Vermögen und will ma ’ne junge Hübsche von 19 anlachen. Glauben Se, ick könnt der so janz simpel beibringen, ick wär erst 49?«
Dr. Kußmaul lachte. »Aber nicht doch, tun Sie genau das Gegenteil! Sie wird viel eher auf Ihr Angebot eingehen, wenn Sie ihr sagen, dass Sie schon 79 sind.«
Bölzkes Stimmung wurde allmählich besser und erreichte ihren Höhepunkt, als ihm auf der Friedrichstraße das Fuhrwerk eines Speditionsgeschäftes entgegenkam und er entdeckte, dass sich sein alter Kumpan Georg oben zwischen den Colli versteckt hatte und auf jemanden wartete, dem er ein Paket in die fangbereiten Arme werfen konnte.
»Orje, hier bin ick, schmeiß wat runta!«
Und ehe der Kutscher vorn auf dem Bock reagieren konnte, hatte Georg ein Paket gegriffen und in Richtung Bölzke geworfen. Der hatte keine Mühe, es zu fangen, und beide flüchteten mit ihrer Beute die Behrenstraße hinunter, um sich im Thiergarten vor ihrem Verfolger in Sicherheit zu bringen, was ihnen auch gelang. Als sie das Paket öffneten, jubelten sie, denn es enthielt handgedrehte Cigarren aus Vierraden. Die verscherbelten sie alsdann bei verschiedenen Händlern, die nicht lange nach der Herkunft einer Ware fragten, und machten sich einen schönen Tag, indem sie erst einmal zur Fischerstraße gingen und im »Nußbaum« aßen. Es hätte auch für ein vornehmeres Gasthaus gereicht, aber sie hatten Angst, dass ihnen dort der Viertel-Commissarius auf den Zahn fühlen würde. Angetrunken, aber immer noch aufrecht liefen sie durch