»Kommen wir heute zur zwölften Schlacht des Siebenjährigen Krieges, nämlich zu der von Zorndorf, nordöstlich von Küstrin, am 25. August 1758. Bei Zorndorf gibt es eine teilweise sumpfige Niederung mit dem Galgen- und dem Zaberngrund, verschiedenen Tümpeln und kleinen Gehölzen, die eingebettet ist in eine weiträumige Heidelandschaft.« Gontard ging an die Tafel, skizzierte die Stellungen der Russen und der Preußen und erklärte den Schlachtverlauf. »Die Russen unter General Wilhelm von Fermor kommen von Küstrin her, das sie mit der Artillerie beschossen haben, und erwarten hier bei Zorndorf die Preußen unter Friedrich dem Großen. Der hat 36 800 Mann aufzubieten, die Russen 44 300. Bei Sommerhitze wird den ganzen Tag über erbittert gekämpft. Der preußischen Infanterie gelingt es nicht, eine Bresche in die gegnerischen Stellungen zu schlagen, und schließlich muss der linke preußische Flügel zurückweichen. Da passiert etwas höchst Beachtliches: Der König selbst steigt vom Pferd, ergreift die Fahne des Infanterieregiments No. 46, das General von Bülow befehligte, und bringt seine fliehenden Soldaten dazu weiterzukämpfen. Das nützt aber nichts, die Niederlage scheint sicher, zumal der Reitergeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz, der mit seinen fünfzig Schwadronen auf dem rechten Flügel steht, entgegen dem ausdrücklichen Befehl des Königs nicht eingreift. ›Er haftet mit Seinem Kopf für die Bataille!‹, ruft der König aus. Doch Seydlitz’ Erfahrung, seine Intuition und seine einzigartige Fähigkeit, eine Schlacht zu lesen, sagen ihm, dass der richtige Zeitpunkt für eine Kavallerieattacke noch nicht gekommen ist, und so wartet er ab. Erst als die Russen, die weit in die preußischen Stellungen eingedrungen sind, ihm den Rücken zuwenden, entscheidet er die Schlacht zugunsten Preußens mit einer fulminanten Kavalkade.«
Hurra-Rufe erklangen im Hörsaal, und nun wurde darüber diskutiert, ob es klug war, dass der König mit seinem Eingreifen sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und ob sich Kaiser und Könige überhaupt mitten auf dem Schlachtfeld aufhalten sollten. Eine andere wichtige Frage war, ob man Seydlitz wegen Befehlsverweigerung vor das Kriegsgericht hätte stellen sollen oder er als der eigentliche Sieger von Zorndorf auf einen Denkmalssockel gehörte.
»Das ist ja das Thema von Kleists Prinz von Homburg!«, rief einer der Lieutenants.
Gontard nickte. »So ist es, nur mit dem Unterschied, dass Friedrich dem General Seydlitz noch auf dem Schlachtfeld dankte und nicht wie der Große Kurfürst das Kriegsgericht bemühte.«
Darüber wurde noch eine Weile diskutiert, dann war die Stunde zu Ende, und Gontard konnte sich wieder auf den Heimweg machen. So ließ sich das Leben genießen, sogar in dem großen Gefängnis namens Preußen. Gerade war er wieder auf die Straße Unter den Linden getreten, da lief er Julius Hitzig in die Arme.
Der stammte aus der Hofjudenfamilie Itzig, war aber 1799 zum Christentum konvertiert und hatte ein H vor seinen Namen setzen lassen. Hitzig betätigte sich als Jurist und Verleger. Er war 1815 Criminalrat in Berlin geworden, und 1827 hatte man ihn zum Director des Inquisitoriats sowie zum Mitglied im Criminal-Senat ernannt. Seit 1835 befand er sich allerdings im Ruhestand. Er hatte strafjuristische Fachzeitschriften begründet, war aber dem breiteren Publikum vor allem durch die Sammlung Der neue Pitaval bekannt geworden, die er zusammen mit Willibald Alexis herausgab und in der in regelmäßiger Folge Bände mit aufregenden Criminalfällen erschienen.
»Na, mein lieber von Gontard, von Ihnen war in letzter Zeit ja wenig zu hören. Haben Sie es aufgegeben, die Fälle unseres wackeren Criminal-Commissarius Werpel zu klären?«
»Mitnichten, aber seit dem Mamsellenmörder und dem Mord an Oberst-Lieutenant von Streyth hat es keine Fälle mehr gegeben, die mich hätten interessieren können. Und wenn Sie mich dazu animieren möchten, wieder einmal eine Tat aufzuklären, dann müssten Sie schon selbst den perfekten Mord begehen.«
Hitzig kam nicht umhin, Gontards besondere Leidenschaft von der moralischen Seite her zu betrachten.
»Sehnsüchtig auf den nächsten Mord zu warten erscheint mir doch ein wenig zweifelhaft.«
Gontard lachte. »Das Publikum will es so. Es liebt das Erschaudern, und jeder ist glücklich, dass es ihn nicht getroffen hat. Außerdem eint das Verbrechen die aufrechten Gemüter im Abscheu vor Tat und Täter und macht dem Volke, wenn der Täter erst einmal am Galgen hängt, klar, dass sich das Morden nicht lohnt.«
»Ach Gontard, jetzt weiß ich endlich, dass ich nicht vergebens gelebt haben werde!«, rief Hitzig, um sich dann zu verabschieden und seinen Weg in den Thiergarten fortzusetzen. »Also, hoffen wir auf den nächsten schönen Fall!«
Gontard liebte sein Zuhause, seine Frau und seine Kinder, doch den ganzen Tag dort zu verbringen langweilte ihn. So hatte er sich auch für den heutigen Abend mit Friedrich Kußmaul verabredet, um durch Berlin zu streifen und zu hören, was im Volke so geredet wurde. Sie hatten vereinbart, dass Gontard in die Ordination kommen sollte, da nie ganz genau vorherzusagen war, wann der letzte Patient gegangen war. Also machte sich Gontard auf zum sogenannten Löben’schen Haus, das an der Ecke Leipziger und Jerusalemer Straße gelegen war. Früher war hier das Hauptritterschaftskreditkollegium untergebracht gewesen, jetzt gab es in dem vierstöckigen Eckhaus Privatwohnungen, und Kußmaul hatte sich auf der ersten Etage seine Praxis eingerichtet.
Bei der letzten Volkszählung vom 3. Dezember 1846 hatten 408 502 Menschen ihren Wohnsitz in Berlin gehabt, und inzwischen mochten es noch ein paar mehr geworden sein, so dass Gontard eigentlich damit rechnen konnte, Unter den Linden, in der Friedrich oder der Mohrenstraße einen Verwandten oder einen lieben Freund zu treffen, doch der Zufall war heute gegen ihn. Dafür lief er auf dem Hausvogteiplatz Waldemar Werpel in die Arme.
Der Criminal-Commissarius gab sich übertrieben freundlich. »Nun, verehrter Herr Oberst-Lieutenant, wie ist das werte Wohlbefinden?«
»Danke für die Nachfrage, lieber Werpel. Ich möchte sagen, schlecht, denn schon allzu lange haben wir beide zusammen keine Bluttat mehr aufklären können.«
Werpel kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, der Innenminister habe Ihnen das ausdrücklich untersagen lassen …«
Gontard lachte. »Nein, das hat Herr von Bodelschwingh nicht getan.« Am liebsten hätte Gontard hinzugefügt: Schließlich schätzt er mich als einen Liberalen und ist mit seinem König alles andere als d’accord. Aber das brauchte er Werpel nicht auf die Nase zu binden. »Ich hätte zu gern einmal gewusst, wer sich an den Minister gewandt hat. Haben Sie da einen Verdacht?«
Werpel drehte sich um. »Meine dienstlichen Pflichten gestatten mir leider keine längere Plauderei. Adieu, Herr Oberst-Lieutenant!«
Gontard sah dem Criminal-Commissarius schmunzelnd hinterher. Irgendwie tat er ihm leid. Zu oft hatte er ihm den Sieg beim Kampf gegen das Verbrechen weggeschnappt. Andererseits wäre Werpel sicherlich schon längst in die tiefste ostpreußische Provinz versetzt worden, wenn er nicht auch von Gontards Erfolgen profitiert hätte.
Nachdenklich, aber doch bestens gelaunt stieg er dann zu Kußmauls Praxis hinauf. Er freute sich schon darauf, im Wartezimmer in den ausgelegten Journalen zu blättern. Doch als er eingetreten war, erstarrte er. Denn wer dort saß und in der Vossischen Zeitung las, war keine andere als … Flora Morave. Bevor er Henriette kennengelernt hatte, hatte er viele Amouren mit Tänzerinnen und Schauspielerinnen gehabt, und Flora hatte zu seinen Favoritinnen gehört. Und er wäre jetzt auch nicht derart in Panik geraten, wenn zu dieser Zeit nicht gerade eine gewisse Lola Montez, auch eine Tänzerin, das gesamte bayerische Königreich durcheinandergewirbelt hätte. Die Dame hatte eine Affäre mit Ludwig I. und von diesem Verhältnis finanziell bereits erheblich profitiert. Er hoffte inständig, dass Flora ihn nach rund fünfzehn Jahren nicht wiedererkennen würde – oder nicht wiedererkennen wollte. Doch seine Hoffnung war vergebens.
In ihrem Gesicht arbeitete es einen Augenblick, dann lächelte sie, leicht maliziös, wie ihm schien, stand auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Oh, que c’est beau de vous voir encore une fois, mon ami une fois tant aimé .”
Gott sei Dank hatte sie das auf Französisch gesagt, und die anderen im Wartezimmer Sitzenden verstanden es offenbar nicht. Nur der Junge, der neben ihr saß, grinste anzüglich.
»Auch für mich ist es ein Vergnügen, Ihnen, Mademoiselle