Horst Bosetzky

Aufruhr am Alexanderplatz


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      Gontard erschrak, denn er hatte schnell zurückgerechnet. O nein, diese Ähnlichkeit! Aber wenn Jean-Paul wirklich sein Sohn war, warum hatte sich Flora nie gemeldet? Und jetzt? War sie etwa aus Paris zurückgekommen, um ihn, wie die Berliner sagten, auszunehmen wie eine Weihnachtsgans? O Gott, der Skandal, wenn Henriette davon erfuhr! Und all die preußischen Beamten, die ihn wegen seiner liberalen Tendenzen schon lange im Visier hatten! Plötzlich hatte er eine Schreckensvision vor Augen: Flora wurde in Berlin ermordet – und für Werpel wie auch den Polizeipräsidenten von Minutoli gab es da nur einen möglichen Täter, nämlich ihn. Ihm wurde siedend heiß. Was tun? Fliehen oder standhalten?

      Wer ihn rettete, war sein Freund, denn gerade in diesem kritischen Augenblick öffnete Kußmaul die Tür zum Sprechzimmer und erfreute die Wartenden mit der Aufforderung: »Der Nächste bitte!«

      Da sprang Gontard vor, drängte einen Rentier zur Seite, presste die rechte Hand auf den Unterbauch und stöhnte: »Herr Doktor, mein Blinddarm! Ich sterbe!«

      Dr. Kußmaul ahnte natürlich nichts von den Zusammenhängen, begriff aber sofort, dass Gontard in Not war, und ließ ihn an sich vorbei ins Behandlungszimmer schlüpfen, wo er dann auch über alles aufgeklärt wurde.

      »Was nun, Fritz?«, fragte Gontard, nachdem er seinem Freund die Geschichte erzählt hatte.

      Der Arzt musste nicht lange überlegen. »Ich lasse dich jetzt durch die Hintertür entkommen, und du gehst rauf zu meiner Frau und lässt dir einen Baldriantee aufbrühen.«

      Der tat dann auch bald seine Wirkung, aber noch mehr half Gontard der Trost, den ihm Luise Kußmaul zuteilwerden ließ. »Deine Henriette hat ein großes Herz, und sie wird es hinnehmen, dass du noch ein drittes Kind gezeugt haben könntest – es war ja alles vor ihrer Zeit.«

      »Aber was ist, wenn Flora Geld von mir haben will, viel Geld, und damit droht, sonst einen Riesenskandal zu entfesseln?«

      »Dann hast du uns an deiner Seite, und du kennst selbst eine Menge einflussreicher Leute. Was soll da schon passieren?«

      Gontard war verzweifelt. »Falls sie umgebracht wird, werde ich als ihr Mörder verdächtigt werden.«

      Luise Kußmaul sah ihn verständnislos an. »Warum sollte sie denn umgebracht werden?«

      »Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl …«

      Und von diesem Gefühl kam er auch am Abend nicht los, als er mit Kußmaul durch Berlin streifte, um herauszufinden, ob es irgendwo Anzeichen für ein bevorstehendes politisches Erdbeben gab. In Mailand, Palermo, Neapel und Padua hatte es schon Unruhen gegeben. Breitete sich die Revolte von dort nach Norden aus? Wurde München, wo Lola Montez weiter für Aufregung sorgte, als erste deutsche Stadt erfasst? Dies alles fragten sich die Berliner, insbesondere die Intellektuellen, die im Roten Salon des Lesecafés Stehely oder im Lese-Cabinet der Berliner Zeitungs-Halle am Gensdarmen-Markt beisammensaßen und diskutierten. Zeitungen mussten in Preußen von der Zensur genehmigt werden, aber viele ausländische Blätter wurden im Reisegepäck nach Berlin geschmuggelt. Besonders begehrt waren die aus der Schweiz, wo das liberale Bürgertum gerade einen grandiosen Sieg errungen hatte. Wer eine der raren Zeitungen aus Zürich oder Bern ergattert hatte, stellte sich oft auf einen Stuhl und las den anderen laut daraus vor. Diesmal erlebten Gontard und Kußmaul den Tierarzt Friedrich Ludwig Urban in dieser Rolle. Es hieß, Urban sei prädestiniert dafür, das Volk anzuführen, wenn es in Berlin zu einer Revolution kommen sollte.

      »Gott«, murmelte Gontard, »einen preußischen Danton oder Robbespierre hätte ich mir anders vorgestellt. Dieser Urban ist doch nur eitel und geltungssüchtig und viel zu romantisch und gefühlsselig, als dass er die Massen mitreißen könnte.«

      »Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Kußmaul ihm.

      Wesentlich besser gefiel Gontard später der Kellerhalsredner Heinrich Carrenzien, den sie in der Weinmeisterstraße erlebten. Kellerhalsredner hießen Leute wie er bei den Berlinern, weil sie auf den niedrigen, überdachten Treppen standen, die in die Kellerlokale führten, und von dort aus zu den anwesenden Gästen sprachen.

      »Ihr Männer alle«, rief er mit Stentorstimme, »erhebt euch, um für das zu kämpfen, was für euch am wichtigsten ist: das Recht auf Arbeit! Fordert die Einrichtung von Nationalwerkstätten, wo man euch mit gemeinnützigen Arbeiten beschäftigt und gut entlohnt. Das sichert euer Überleben und den allgemeinen Wohlstand.«

      »Dann soll der Carrenzien mal den Karren ziehn«, reimte Kußmaul. »Und zwar aus dem Dreck.«

      Sie hätten ihm gern noch länger zugehört, doch hinter ihnen gab es einen kleinen Auflauf. Zwei Männer waren in eine heftige Schlägerei geraten. Offenbar ging es um ein auffallend schönes Mädchen. Wie Gontard und Kußmaul den Zurufen der Umstehenden entnehmen konnten, handelte es sich bei den Herren um den Arbeitsmann Ferdinand Dünnebier und den Tischlergesellen Gottlieb Letschinski und bei der Dame um eine gewisse Auguste Gärtner, offenbar eine Dienstmagd. Jeder drohte dem anderen, ihn auf der Stelle umzubringen.

      »Dir is wohl schon lange keen blutijet Ooge übers Chemisett jekullert!«

      »Dir hau ick uff ’n Kopp, dette in keen Sarg mehr passt!«

      »Een Schlag, und deine Neese sitzt hinten!«

      »Ick schmeiß dir an de Wand, dette kleben bleibst und der Criminal-Commissarius dir abkratzen muss!«

      Kußmaul wandte sich an Gontard. »Da scheint es endlich mal einen Fall für dich zu geben.«

      Gontard wehrte ab. »Nicht doch, du beleidigst mich. Wer da der Täter ist, findet sogar Werpel auf Anhieb heraus, das ist weit unter meinem Niveau.«

      Franz Theodor Kugler saß mit Adolph Menzel am 14. Februar, einem Montag, im Hotel Ruppiner Hof in der Spandauer Straße No. 79. Die beiden verband nicht nur eine innige Freundschaft, sondern auch eine gemeinsame berufliche Erfahrung: Menzel hatte für Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen rund vierhundert Zeichnungen angefertigt und damit zu dem großen Erfolg des Werkes beigetragen. Menzel war es dadurch außerdem gelungen, sich als Künstler einen Namen zu machen und Kontakte zum Hof zu knüpfen. Kugler hatte schon vorher einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, nicht zuletzt durch sein 1830 erschienenes Skizzenbuch mit dem Volkslied An der Saale hellem Strande. Er war Mitglied der Sing-Akademie zu Berlin und der literarischen Vereinigung ›Tunnel über der Spree‹.

      »Wie geht es bei dir zu Hause?«, wollte Menzel nun von Kugler wissen.

      Kugler lächelte. »Danke, gut, wenn auch manchmal recht hitzig.« Das war eine Anspielung darauf, dass er vor fünfzehn Jahren Clara Hitzig geheiratet hatte, die Tochter von Julius Eduard Hitzig. »Wir haben drei sehr lebhafte Kinder.«

      Da schwieg Adolph Menzel. Wegen seiner »Gnomenhaftigkeit« – 1,40 Meter maß er lediglich – war er nicht nur als untauglich für das Militär erklärt worden, sondern wurde auch von allen Frauen übersehen, die ihm gefielen. Die menschliche Wärme fand er bei seiner Mutter und seinen Geschwistern, mit denen er auch zusammenwohnte.

      Menzel griff nach seinem Weinglas. »Ich hoffe nur, wir schaffen es zeitlich wie finanziell, in diesem Sommer einmal zu verreisen.«

      Kugler legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Warte nur, bis sie deine Bilder überall ausstellen und dich zu allen Vernissagen anreisen lassen.«

      »Ja, Dresden, Wien, Paris – das wäre wunderbar!«

      »Und Breslau nicht?«, fragte Kugler. Dort war Menzel am 8. Dezember 1815 zur Welt gekommen – wie so viele echte Berliner.

      Menzel winkte ab. »Über Breslau habe ich erst letzte Woche mit Borsig geredet, der kommt ja auch von daher.«

      »Willst du nicht eine seiner Lokomotiven malen, wie sie durch die Schöneberger Wiesen dampfen?«, fragte Kugler.

      Menzel fasste sich an den Kopf. »Gott, Franz, das habe ich doch schon letztes Jahr getan!«

      Kugler seufzte. »Dass ich das vergessen