über der Spree‹.«
»Versprochen.«
Damit leerten sie ihre Gläser, zahlten die Zeche und nahmen Abschied voneinander. Danach machten sie sich auf den Heimweg, was ein ziemliches Abenteuer war, denn eine elektrische Straßenbeleuchtung gab es in Berlin noch lange nicht, und man musste sich darauf verlassen, dass etwas Licht aus den Wohnungen fiel und die trüben Gaslaternen an den Hauseingängen nicht vom Wind ausgeblasen worden waren. Dazu kam, dass die Bürgersteige nur grob gepflastert waren und zum Fahrdamm hin von einer breiten Rinne gesäumt wurden, durch die das Regenwasser abfließen sollte. Ab und an gab es schmale hölzerne Stege, auf denen man sie überwinden konnte.
Aber Kugler hatte es nicht weit, er wohnte in der Stralauer Straße, gleich hinter dem Molkenmarkt, brauchte also nur die Spandauer Straße hinunterzugehen. Das war eigentlich in ein paar Minuten zu schaffen – und dennoch dauerte es heute eine gute Stunde, ehe er zu Hause war. Denn an der Nikolaikirchgasse stolperte er über einen menschlichen Körper.
»Heh, Wache!«, schrie er in die Dunkelheit. »Hier liegt ein Betrunkener. Kommt den mal holen, sonst erfriert er noch.«
Als der Nachtwächter mit seiner Laterne heran war, erkannte Kugler den Mann: Es war Ferdinand Dünnebier, ein Dienstmann, der ihm schon oft beim Tragen schwerer Lasten geholfen hatte.
»Der is ja gar nich besoffen«, stellte der Nachtwächter fest, nachdem er sich zu Dünnebier hinuntergebeugt hatte. »Der ist tot, dem hamse ’n Schädel einjeschlagen. Sehn Se det Blut hier hinten am Koppe …«
Der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel wohnte schon seit einer halben Ewigkeit in der Oberwallstraße. Die begann Unter den Linden, quetschte sich zwischen Kronprinzen und Prinzessinnenpalais hindurch Richtung Süden und endete am Hausvogteiplatz. Direkt neben ihm, im Hause No. 4a, hatte August Neidhardt von Gneisenau gelebt, einer der großen preußischen Heerführer in den Befreiungskriegen, und das erfüllte Werpel, der Preuße durch und durch war, mit nicht geringem Stolz.
Wie an fast allen Abenden langweilte er sich auch an diesem. Seine acht Kinder schliefen schon, ebenso seine Frau. Das war bedauerlich, weil er sich gern wieder einmal als Ehegatte betätigt hätte. Nun war er mit Minna schon seit über zwanzig Jahren verheiratet, und da sie zudem in letzter Zeit sehr in die Breite gegangen war, begehrte er sie eigentlich nicht mehr, doch am Tage hatte er in seiner Amtsstube die Tänzerin Flora Morave zu Besuch gehabt, der man Geld gestohlen hatte, und seitdem war er sexuell derart aufgeladen, dass er es ohne Kopulation kaum noch aushalten konnte. In ein Bordell zu gehen, was das Naheliegendste gewesen wäre, verbot ihm sein Amt. Was tun? So saß er beim Schein seiner Rübenöllampe am Küchentisch, tat so, als würde er Akten studieren, und ließ seine rechte Hand ihr Werk vollbringen. Gerade nahte die Erlösung, da wurde kräftig an seine Haustür gebummert.
»Herr Commissarius, schnell, kommen Sie!«, schrie jemand von der Straße her. »Ein Mord an der Nikolaikirche.«
Werpel fühlte sich um seine Lust betrogen und verfluchte Gott und die Welt. Aber was half ’s? Über allem standen Dienst und Pflichterfüllung. Also knöpfte er eilig seine Hose zu und lief auf den Flur. »Wer ist denn da?«
»Der Kugler.«
»Pardon, ich eile!« Werpel war natürlich nicht entgangen, dass Franz Theodor Kugler beim König ein Stein im Brett hatte. Er öffnete, bedankte sich in blumigen Worten für die Aufmerksamkeit des Schriftstellers und lief dann zur Kammer seines Ältesten. »Johannes, zieh dich an, und lauf zu Constabler Krause! Er soll sich auf der Stelle an der Nikolaikirche einfinden. Wir müssen sogleich herausfinden, um wen es sich bei dem Ermordeten handelt.«
Kugler lächelte. »Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Es ist der Dienstmann Ferdinand Dünnebier.«
Werpel zuckte zusammen. Alle taten so, als wäre er ein Kretin. »Hat Ihnen das der Oberst-Lieutenant von Gontard verraten?«
»Nein – wieso? Der war doch gar nicht an der Nikolaikirche.«
»Gut, dann wollen wir mal!« Er sagte noch schnell seiner Minna Bescheid, die schlaftrunken in den Flur getreten war, dann machte er sich an der Seite Kuglers auf den Weg zur Nikolaikirche. Sie liefen über die Französische Straße zum Werderschen Markt und weiter zum Schloßplatz, um die Spree zu überqueren. Hier stank es fürchterlich, denn die sogenannten Latrinen-Emmas hoben gerade die Fäkalieneimer, die sie in den anliegenden Straßen aufgeladen hatten, von ihrem Handkarren und kippten sie in den Fluss. Beim Einbiegen in die Poststraße kam ihnen der Constabler Krause entgegen.
»Welchen Wirt soll ick festneh’m?«, fragte er Werpel.
»Welchen Wirt Sie festnehmen sollen?«, wiederholte Werpel, der sich darauf beim besten Willen keinen Reim machen konnte.
»Na, den, der det zu dünne Bier ausjeschenkt hat.« Werpel seufzte. Es stimmte leider, was viele von Krause behaupteten: dass er dümmer sei, als die Polizei erlaubte. Er erklärte ihm, dass der Ermordete den Namen Ferdinand Dünnebier trug.
»Det muss doch ’m dummen Menschen jesagt werden«, maulte Krause.
»Darum sag ich’s Ihnen ja.« Werpel wandte sich an Kugler, da sie nun das Gotteshaus erreicht hatten und auf der Nordseite umrundeten, um in die Nikolaikirchgasse zu gelangen. »Wo genau liegt denn nun der tote Dünnebier?«
»Da drüben, vor der Wenzel’schen Holz- und Kohlenhandlung.«
Werpel staunte, als sie die besagte Stelle erreicht hatten.
»Da liegt aber keiner!«
»In der Tat«, musste Kugler einräumen.
»Dabei is doch noch ja nich Himmelfahrt«, stellte Krause fest.
Vier
Christian Philipp von Gontard hatte als Königlich Preußischer Oberst-Lieutenant viele dienstliche Pflichten, und eine von ihnen war die Teilnahme an den Beerdigungen hochrangiger Militärs. Die wurden – sofern sie denn einen Platz in Anspruch nehmen mussten, weil sie keinen eigenen Landbesitz in Preußen hatten – auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Inzwischen lagen hier viele Helden der Befreiungskriege, und im Februar 1848 waren Leopold Hermann Ludwig von Boyen und Johann Friedrich Constantin von Lossau dazugekommen. Letzteren schätzte Gontard ganz besonders, weil dessen Standardwerk Ideale der Kriegsführung, in einer Analyse der Thaten der größten Feldherren für seine Lehrveranstaltungen im Fach Kriegsgeschichte unentbehrlich war. Die Entscheidungen von Alexander dem Großen, Hannibal, Caesar, Gustav Adolf, Turenne, dem Prinzen Eugen, Friedrich dem Großen und Napoleon wurden darin kenntnisreich diskutiert. Dabei teilte Gontard Lossaus Meinung voll und ganz, dass nur derjenige Feldherr auf Dauer erfolgreich sein konnte, der seine Entscheidungen nicht nach starren Regeln der Kriegskunst, sondern aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und besonderen Verhältnisse traf und konventionellem Denken nicht verhaftet war.
Als der Trauerredner über Lossau sprach, hörte Gontard ganz genau zu und machte sich sogar heimlich Notizen, um das Gehörte in seine Vorlesungen einfließen lassen zu können.
»Johann Friedrich Constantin von Lossau wurde am 24. Juli 1767 als Sohn eines preußischen Generals der Infanterie in Minden geboren. Bekannt geworden ist er vor allem als Militärhistoriker …«
Auf dem Weg von der Kapelle zur Grabstelle hatte Gontard einen Mann mittleren Alters vor sich, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er war untersetzt und ging mit leicht schlurfenden Schritten. Mit seinem Nebenmann unterhielt er sich leise in einer Sprache, die Gontard erst für Polnisch, dann für Litauisch hielt, von der er aber kein Wort verstand außer »Lossow«.
»Taip, mūsų draugas buvo labai puikus vyras Lossow, ir dabar mes turime vykdyti jį jo kape …«
Als sie dann am offenen Grab Aufstellung genommen hatten, um den letzten Worten des Garnisonpredigers zu lauschen und zu warten, bis sie ihre drei Hände Sand auf den inzwischen herabgelassenen Sarg werfen konnten, drehte der andere ihm sein Gesicht zu, und bei Gontard zündete es sofort: Richard von Randersacker, Schießplatz Wahner Heide. Nach Ende der Zeremonie fand er dann Gelegenheit, Randersacker anzusprechen. »Christian Philipp