Horst Bosetzky

Berliner Leichenschau


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Toter aus dem Wasser geborgen, so war die Frage zu klären, ob es Tötung, Selbsttötung oder ein Unfall war, wobei die Unfälle statistisch deutlich überwogen. Zur Klärung, die schwierig und gelegentlich sogar unmöglich sein konnte, mussten alle Ermittlungsergebnisse, Beobachtungen von Zeugen sowie mitunter Gutachten verschiedener Experten herangezogen werden. Das konnten neben Kriminalisten und Rechtsmedizinern unter Umständen auch Tauchexperten, Meereskundler oder Schifffahrtsexperten sein.

      Der Mensch war eben kein Fisch. Wenn die Sauerstoffzufuhr drei bis fünf Minuten unterbrochen wurde, trat der Tod ein. Im Wasser war dies also ein Erstickungstod. Der Begriff »Ertrinken« war irreführend und historisch begründet. Er ging wohl auf den griechisch-römischen Arzt Galen zurück. Zwar schluckt der Ertrinkende in der Regel auch Flüssigkeit, aber er stirbt nicht durch Magenüberfüllung, sondern durch Eindringen der Ertrinkungsflüssigkeit in die Luftwege mit Verhinderung des Sauerstoffaustauschs in der Lunge.

      Ja, wenn wir unsere Kiemen noch hätten, um den Sauerstoffgehalt des Wassers zu nutzen!, sagte sich Schwarz. Wie viele Menschen wissen wohl, dass wir in unserem Hals-Nasen-Ohren-Bereich noch Reste von Kiemenbögen und -spalten besitzen? Die stammen aus unserer Embryonalperiode und sind damit Zeugen unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung aus Meeresbewohnern. Der Zoologe Ernst Haeckel hatte dies genial in seinem biogenetischen Grundgesetz formuliert: Die Ontogenese ist eine kurze Wiederholung der Phylogenese.

      Schwarz erinnerte sich an junge Männer, gute Schwimmer, die ihre Kräfte überschätzt hatten und überhitzt ins Wasser gesprungen waren. Eine besonders üble Rolle spielte immer wieder die Alkoholisierung. Schwarz wurde bei privaten Gesprächen wie in seinen Vorlesungen nicht müde, auf die Unvereinbarkeit von Trunkenheit und Badefreuden hinzuweisen. Die Erfahrungswerte waren klar, die pathophysiologischen Mechanismen beim lautlosen Untergehen Betrunkener hingegen weithin unerforscht, und die Einsicht seiner Zuhörer erschien ihm auch meist begrenzt.

      In Gerichtsprozessen war bei Todesfällen im Hallen- oder Strandbad die Pflichtverletzung von Aufsichtspersonen verhandelt worden, häufig ohne oder mit widersprüchlichen Zeugenbeobachtungen. Die Todesursache war rechtsmedizinisch meist zu klären, nicht immer aber der Hergang des Geschehens. Denn dem finalen Ertrinken konnten unterschiedlichste pathophysiologische Vorgänge vorausgegangen sein. Und es gab auch Todesfälle im Wasser ohne Ertrinken, die durch natürliche Todesursachen eintraten und im Sammelbegriff »Badetod« zusammengefasst wurden.

      Auch die schrecklichen Querschnittslähmungen mit oder ohne Todesfolge fielen Prof. Schwarz ein. Sie waren durch einen Sprung in zu flache, meist unbekannte Gewässer entstanden und betrafen in der Regel junge, sportliche Schwimmer. Auch hierzu erinnerte Schwarz sich an schwierige Gerichtsverfahren. So war ein junger Mann nach einem Sprung vom Startblock eines öffentlichen Strandbades mit einer hohen Querschnittslähmung bewusstlos geborgen worden. Er überlebte die Halswirbelfraktur, war aber an den Rollstuhl gebunden, berufsunfähig geworden und hatte den Betreiber des Bades auf Schadenersatz verklagt. Als Gutachter hatte Schwarz die Weltliteratur zu dem Thema »Wassertiefe und Halswirbelsäulenverletzung« studiert. Der Beklagte verwies darauf, dass die Wassertiefe bei dem betreffenden fließenden Gewässer schwankte. Letztlich war das Faktum der Wirbelfraktur infolge Stauchung und Überstreckung der Halswirbelsäule im konkreten Fall bei geringer Sprunghöhe nur durch Bodenkontakt und damit durch unzureichende Wassertiefe zu erklären.

      In einem weiteren Fall von Querschnittslähmung in einem Strandbad war die Entstehung einzig durch Kopfsprung mit Auftreffen des Verletzten auf einen anderen Badenden möglich. Der bei der Obduktion anwesende Staatsanwalt einer brandenburgischen Kreisstadt hatte große Behälter mitgebracht, um Wasser aus dem Strandbad auf tödliche Gifte untersuchen zu lassen. Nachdem Schwarz und seine Kollegen geklärt hatten, dass die weiteren rund zweihundert Badegäste wohlauf waren und der Tote an einer hohen Querschnittslähmung gestorben war, konnte auf die toxikologische Analyse verzichtet werden.

      Der Rechtsmediziner wusste, dass neben der Temperatur auch die Zusammensetzung der Ertrinkungsflüssigkeit – beispielsweise der Salzgehalt (Süß- oder Salzwasser) – für die Ausbildung der Leichenbefunde bedeutsam waren. Mit Salzwasserleichen hatte man als Rechtsmediziner in Berlin-Brandenburg naturgemäß wenig praktische Erfahrung.

      Ein besonders unschönes Kapitel waren die Wasserleichen im Sommer. Schwarz konnte sich noch gut an die zurückliegenden Jahre im Sektionssaal ohne Klimaanlage erinnern – doch mittlerweile gehörte das glücklicherweise der Vergangenheit an. Bei langer Liegezeit im Wasser, speziell bei hohen Temperaturen, konnten die Fäulnisveränderungen so hochgradig sein, dass Körperoberfläche wie innere Organe kaum noch zu beurteilen waren. Meist war auch eine Identifizierung durch Inaugenscheinnahme des Leichnams unmöglich, da Gesicht, Rumpf und Gliedmaßen verfärbt und aufgetrieben waren. Dazu kam der penetrante Geruch. Weitere Erschwerungen entstanden durch sogenannte Algen- oder Schlammrasen auf der Leichenhaut. Einige Male hatte Schwarz erlebt, dass sich Hinterbliebene auch durch deutlich formulierte Warnungen nicht von einer Besichtigung des vermutlichen Angehörigen abhalten ließen – und das erstaunlich gut bewältigt hatten.

      Die Gasproduktion in dem verfaulenden Leichnam führte zu einem starken Auftrieb im Wasser, was den versunkenen Leichnam nach einiger Zeit wieder an die Oberfläche brachte. Schwarz hatte in den vergangenen Jahren mehrfach Beschwerungen an Wasserleichen vorgefunden, die einen Auftrieb nicht verhindert hatten. Solche Gewichte verschiedenster Art aus Stein oder Metall wurden sowohl bei Selbsttötung als auch bei Mord angebracht. Sie mussten wie auch Fesselungen sorgfältig geprüft werden, um Hinweise für Selbst- oder Fremdanbringung zu gewinnen. Nur bei der Teil- oder sogar Ganz-Betonierung des Körpers, früher in amerikanischen Gangsterkreisen zur Beseitigung von Mordopfern in Gewässern beliebt, konnten kaum Zweifel aufkommen.

      Da Wasserleichen auf dem Bauch liegen, wenn sie frei treiben, Kopf und Gliedmaßen nach unten hängend, waren Aufdunsung und Verfärbung im Gesicht besonders ausgeprägt. In den filmischen Darstellungen von Wasserleichen, zum Beispiel bei großen Schiffskatastrophen, sah Schwarz häufig falsche Rekonstruktionen: Wasserleichen, die auf dem Rücken trieben. Dann konnte er sich nicht verkneifen zu kommentieren: »So haben wir als Kinder im Wasser Toter Mann gespielt, doch das entspricht leider nicht der Realität.«

      Als sein Haus in Sichtweite war, verdrängte Schwarz die unschönen Gedanken an den Tod im Wasser, welche der ungewöhnliche Mordfall ausgelöst hatte. »Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps!« Eigentlich liebte er das Wasser und schaute gerne aus seinem Häuschen auf die nahe Dahme. Doch noch mehr mochte er es, selbst in die Fluten zu springen – am liebsten war ihm die Ostseeküste. Wenn hier immer warme Sommertemperaturen herrschen würden, könnte er auf die beliebten Ferienziele am Mittelmeer, Atlantik oder Pazifik glatt verzichten! Aber so weit war die Klimaerwärmung noch nicht vorangeschritten.

      Es war zu einem Ritual geworden: Regelmäßig wanderten sie durch die Mark Brandenburg, immer an die zwanzig Kilometer und zumeist im Dutzend. Diesmal aber waren wegen der unerträglichen Hitze, unter der Berlin nun schon seit einer Woche zu leiden hatte, nur vier Gruppenmitglieder am Ausgangspunkt, dem Bahnhof Potsdam Park Sanssouci, erschienen: die Kulturjournalistin Medea Meier-Ebersbach, der Schauspieler Bo Rommerskirchen, der Architekt Ludger Krügelstein und seine Frau, die Grundschullehrerin Katharina Krügelstein.

      Katharina Krügelstein blickte misstrauisch zum Himmel hinauf. »Von Westen her scheint ein Gewitter heraufzuziehen.«

      Medea Meier-Ebersbach winkte ab. »Solange es nicht das Jünger’sche Stahlgewitter ist, kann ich damit leben.«

      Bo Rommerskirchen schaltete sich ein und rezitierte einige Zeilen aus Gottfried Kellers Gedicht Gewitter im Mai: »In Blüten schwamm das Frühlingsland, / Es wogte weiss in schwüler Ruh; / Der dunkle feuchte Himmel band / Mir schwer die feuchten Augen zu

      Ludger Krügelstein war währenddessen vollauf damit beschäftigt, sein GPS-Gerät in Gang zu setzen. Als ihm das nach einigen vergeblichen Versuchen endlich gelungen war, gab er das Kommando zum Abmarsch. »Wir wandern durch den Park Sanssouci, dann den Ruinenberg hinauf und durch die russische Kolonie zum Schloss Cecilienhof. Von dort geht es an der Havel entlang über die Glienicker Brücke zum Wirtshaus Moorlake, wo wir einkehren und zu Mittag