Daniel Eichenauer

Das Geheimnis der Väter


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von negativen Gedanken mitreißen ließ, so manches Mal an das Gute im Leben erinnerte. Vor allem aber mochte ich ihn, weil er das totale Gegenteil von mir war. Tom Tauber hatte bereits in der zehnten Klasse gewusst, welchen Beruf er einmal ergreifen wollte – eine Gewissheit, die mir völlig rätselhaft war. ­Woher sollte man in so jungen Jahren wissen, womit man den Rest seines Lebens verbringen wollte? Seitdem er eine Banklehre absolviert hatte, ging er einem geregelten Leben nach und war vollkommen zufrieden mit seiner Berufswahl. Ich hingegen hatte gerade erst mein Studium der Wirtschaftswissenschaften beendet, und nach dem Sprung aus dem warmen Nest der Universität war der Aufprall auf den Asphalt der Realität härter als erwartet. Die Arbeit bei einer Versicherung erwies sich als weniger befriedigend als auf den Karrieremessen angepriesen. Tom war mit den Jahren verbindlicher und zurückhaltender geworden, kurz, er war erwachsen geworden.

      «Tom!», rief ich zur Begrüßung und lachte. «Im weißen Anzug?» Ich sah ihn bewundernd an. «Steht dir ausgezeichnet!»

      Alles war so verändert. Auf einmal stolzierte eine Frau in einem sehr kurzen Rock und mit umso höheren Stiefeln an uns vorbei und lächelte mich sündig an. Sie hatte lange schwarzgefärbte Haare und stahlblaue Augen.

      «Wer war das denn?», fragte ich Tom sogleich.

      «Weiß ich auch nicht, muss irgendeine Freundin von Kathi sein», erwiderte er gleichgültig.

      «Irgendeine Freundin von Kathi?» Ich prustete.

      Die Sündige ging zu einer Blondine und tuschelte mit ihr. Neben der stand eine Brünette in einem Rock mit Leopardenmuster und einer orangefarbenen Strumpfhose. Alle drei nahmen die Partygäste prüfend in Augenschein, saugten an ihren Strohhalmen und lachten frivol.

      «Diese Überraschung ist Kathi aber gelungen!»

      «Das ist noch nicht die Überraschung.» Tom klopfte mir auf die Schulter. «In der Küche findest du was zu trinken.»

      Auf dem Weg dorthin fiel mir eine Frau auf, die mir auf rätselhafte Weise bekannt vorkam. Verstohlen beobachtete ich sie, während ich mein Glas füllte. Die ersten Männer versuchten indes, bei der sündigen Damenrunde zu landen. Lautes Gegacker war die Folge. Die rätselhafte Schöne aber stand alleine da. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, während sie mit ihren langen Haaren spielte. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie geheimnisvoll. Knallrot wandte ich mich den Speisen zu. Ich verfluchte mich und meine Gedanken, womöglich auch meine Schüchternheit. Als ich mich wieder umdrehte, sah sie in eine andere Richtung. Da betrat Kathi die Küche.

      «Was ist denn eigentlich mit der versprochenen Überraschung, Kathi?», fragte ich betont gleichgültig, nachdem wir uns begrüßt hatten. «Wolltest du diesmal nicht lieber deine Gäste überraschen, statt selbst überrascht zu werden?»

      «Hattest du mir etwa wieder einen Polizisten schicken wollen, der sich auszieht?», entgegnete sie tadelnd. Dann nahm sie meine Hand und zog so hastig an mir, dass ich gerade noch mein Glas abstellen konnte.

      In diesem Moment drehte sich die Geheimnisvolle um und lächelte mich erneut an. Sofort versuchte ich, mich von Kathis Hand zu befreien, aber sie ließ mich nicht los. Die Unbekannte sah mich an. Kathi führte mich zu ihr. Als wir vor ihr zum Stehen kamen, schob Kathi mich vor. Keiner sagte ein Wort. Mein Herz schlug bis zum Hals.

      Kathi schaute uns abwechselnd an. «Na, kennt ihr euch noch?», fragte sie aufgeregt.

      «Irgendwie kommt sie mir bekannt vor …», stotterte ich, um überhaupt irgendetwas zu sagen.

      «Hallo, Jakob!», sagte die Schöne lächelnd.

      «Kathi!», flehte ich leise.

      Die Unbekannte lachte rauchig.

      «Na?», bohrte Kathi nach.

      Ich verfluchte sie, während ich um meine Selbstbeherrschung kämpfte.

      «Mensch, Jakob, das ist Neele van Lenk! Erinnerst du dich nicht mehr an sie?»

      Und wie ich mich plötzlich erinnerte! Die Überraschung war Kathi gelungen. Ich hatte Neele van Lenk nicht mehr gesehen, seit sich ihr Vater im Gefängnis erhängt hatte. Dieses fürchterliche Ereignis hatte Neele ein Stück ihrer Unbeschwertheit und uns anderen Kindern die Schulfreundin genommen, die mit uns gemeinsam zwischen den überwucherten Signalanlagen bei den Schienen Verstecken gespielt hatte. Schon bald nach dem Tod ihres Vaters hatte sie Berlin verlassen und war gemeinsam mit ihrer Mutter in eine Kleinstadt in deren westfälischer Heimat gezogen. Anfangs hatten wir uns noch krakelige Briefchen geschrieben, der Kontakt war aber bereits nach kurzer Zeit abgebrochen. Neele hat neue Freunde gefunden und uns vergessen, hatte ich damals gedacht. Das war nun fast zwanzig Jahre her. Ich erinnerte mich an ihr dunkelblondes Haar, an ihre spitze Nase und die schönen blauen Augen. Und tatsächlich – sie sah noch genauso aus wie in meiner Erinnerung. Selbst das Grübchen, für das sie sich früher so geschämt hatte, das ihr Lächeln aber so einzigartig und gewinnend gemacht hatte, war noch da. Gerade schlug sie verschämt lachend die Augenlider mit den langen Wimpern nieder, hielt schüchtern eine Hand vor die Wange und neigte den Kopf, nur weil ich ihr Grübchen allzu auffällig angestarrt hatte.

      Neele erzählte von ihren Erinnerungen an Berlin und wie oft sie an die Stadt zurückgedacht hatte. Stets habe sie dabei ein Gefühl überkommen, das sie zunächst nicht recht einzuordnen gewusst und das sie irgendwann als Heimweh interpretiert hatte. «Weißt du, woran ich oft gedacht habe? An den Pool im neuen Haus deiner Eltern!» Sie lachte.

      Ich erinnerte mich, wie meine Eltern, meine Mutter und Georg Chrumm, dieses Haus gekauft hatten.

       Jakob Chrumm, 1984

      Georg Chrumm hatte mich vor einigen Monaten als Sohn angenommen. Meinen leiblichen Vater hatte ich nie kennengelernt. Ich wusste nur, dass er ein harmloser Urlaubsflirt meiner Mutter gewesen war. Mein neuer Vater bemühte sich nun um ein schönes Heim für seine Familie. Wie passend war es da, dass eines Abends ganz in der Nähe, in derselben Straße, in der wir wohnten, ein Mann seine Ehefrau nicht wie gewöhnlich auf dem Sofa sitzend erwartete, sondern hinter der Tür lauerte – mit einem Hackebeil. Ihre Erben wussten die Konsequenzen geschickt zu nutzen: Bald stand der Tatort zum Verkauf. Das Besondere an dem Grundstück, auf dem keine der typischen Villen, sondern eine schäbige kleine Laube stand, war, dass es direkt an die Mauer grenzte. Es befand sich genau dort, wo die S-Bahn-Strecke, die zum Abenteuerspielplatz von uns Kindern geworden war, entlanggeführt hatte, bevor sie durch die Mauer eingeschläfert und wenig später von ihr verschluckt worden war. Bedrohlich, hässlich und grau durchtrennte die Mauer nur zwei Häuser weiter auch die Straße und den Verbindungsweg zwischen Berlin und Potsdam. Kein Auto verirrte sich mehr hierher. Nur die Giebel der alten Villen in Babelsberg konnte man noch über die Mauer hinweg erblicken. Filmstars und berühmte Regisseure der nahegelegenen UFA hatten dort angeblich scharenweise Quartier bezogen, bevor sie von den Kommunisten um ihr Hab und Gut gebracht und verjagt worden waren.

      Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich das genaueste Bild stets von denjenigen zu machen, die man am wenigsten kennt. Und so hatte man natürlich auch eine genaue Vorstellung von denen, die dort drüben in den Villen der Filmstars wohnten. Selbst wenn es möglich gewesen wäre – mit solchen Menschen wollte hier keiner Kontakt haben.

      Im Grenzstreifen direkt hinter der Mauer befand sich ein Wachturm, eines dieser achteckigen Betonmonster mit Scheinwerfern auf dem Dach, das rund um die Uhr besetzt war. Die große Kanzel saß auf einer dünnen Säule, sodass das Monster unförmig und storchbeinig wirkte. Von ihm ging eine Ruhe aus, die nicht entspannend und erholsam war, sondern höchst bedrohlich wirkte. Da das Gefühl des Bedrohtseins bekanntlich den Genuss stört, entschied man, das Monster zu ignorieren und sich erst dann mit den möglichen Gefahren, die von ihm ausgingen, auseinanderzusetzen, wenn sie eintreten sollten.

      Einige Monate nach der beklagenswerten Ehefrau wurde auch die schreckliche Laube auf unserem neuen Grundstück zu Grabe getragen, denn an ihrer Stelle sollte ein Pool errichtet werden. Berge von Müll, darunter auch Sachen, die in den Sondermüll gehörten, türmten sich in dem Bau, verpackt in Säcken, offenen Kartons und allen