Daniel Eichenauer

Das Geheimnis der Väter


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vor den Häuschen und fragten jeden Fahrer in breitem Sächsisch: «Haben Sie Waffen, Funkgeräte?»

      Nach einigen Stunden kamen wir endlich am ersten der mickrigen Kontrollhäuschen an. Meine Mutter ermahnte mich, dass dieses Hüttchen und ihre Bewohner ernst genommen werden wollten – auch wenn es schwerfalle. Der Wärter in Häuschen Nummer eins nahm unsere Pässe entgegen, schaute uns scharf an, legte die Dokumente beiseite und gebot uns weiterzufahren.

      «Wo sind denn unsere Pässe hin?», wunderte ich mich.

      «Die fahren jetzt auf einem Rollband in das nächste Häuschen, und da bekommen wir sie wieder», erklärte meine Mutter.

      Die graue «Pass-Rollbahn» machte seltsame Geräusche. Das Dach über dem Rollband wirkte noch alberner als der Rest der Maschinerie. Der Wärter in Häuschen Nummer zwei gab uns schweigend die Pässe wieder, schaute sich aber zuvor unsere Namen und Gesichter noch einmal genau an.

      «Und dafür mussten wir jetzt so lange warten?», fragte ich laut.

      «Pst!», zischte meine Mutter.

      Nachdem uns die Sphinx hatte passieren lassen, durften wir endlich die ersehnte Transitautobahn befahren. Das Tacktack-tacktack-tacktack der Autoreifen auf den Betonplatten machte mich zwar schläfrig, aber meine Neugier siegte. In unregelmäßigen Abständen standen auf den Parkplätzen kleine, raupenartige Baracken. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.

      «Das sind Intershops», erklärte meine Mutter. «Da kann man zollfrei Zigaretten, Alkohol und Ähnliches kaufen.»

      «Bäh!», rief ich aus.

      «Die haben auch andere Sachen.»

      Mein Misstrauen aber war geweckt. Deutlich konnte ich mich an eine Szene erinnern, die sich in der Weihnachtszeit zugetragen hatte. Damals hatte ich meiner Großmutter einen Besuch abgestattet. Als ich ins Haus getreten war, hatte ich sie in der Küche hantieren gehört und zunächst durch den Türspalt gespäht. Ich traute meinen Augen kaum: Auf dem Holztisch in ihrer gemütlichen, alten Küche stand ein großes Paket, um das herum Schokoladentafeln, Päckchen mit Kaugummis und Gummibärchen und anderes, was ein gutes Weihnachtsgeschenk ausmachte, lagen. Strumpfhosen und Deo irritierten mich aber. Je länger ich nachdachte, desto seltsamer kam mir das alles vor. Meine Großmutter neigte üblicherweise nicht zu Übertreibungen, das hier aber war der Inbegriff des Überflusses. Was hatte das nur zu bedeuten? Offenbar bereitete sie eine Weihnachtsüberraschung für mich vor. Ich sollte ihr Zeit geben, die Sachen vor mir verstecken zu können. Vorsichtig schlich ich von der Küchentür zurück. Der alte Boden knarrte.

      «Jakob? Bist du schon da? Wie schön! Ich bin in der Küche. Komm doch zu mir!»

      Ich stutzte. Zaghaft öffnete ich die Tür. Als ich eintrat, ging meine Großmutter um den Tisch herum und sah konzentriert auf einen Zettel, den sie in der Rechten hielt. Die Linke hatte sie in ihre Hüfte gestemmt. Ihr weißes Haar war zusammengebunden. Sie murmelte etwas vor sich hin. Als sie mich sah, ließ sie den Zettel sinken, lachte und hob mich hoch.

      Ich schaute auf den Tisch und heuchelte Überraschung. «Oh, so viel Schokolade, wie toll!» Ich befreite mich aus ihren Armen und wollte die Sachen genauer inspizieren.

      «Finger weg, das ist nicht für dich!»

      Wie bitte? Meine Traumblase platzte. Ich war entsetzt. Wie konnte sie nur so herzlos sein?

      «Das ist für deinen Onkel Ortwin und seine Familie in Chemnitz.»

      Genau genommen war auch Onkel Ortwin gar nicht mein Onkel, sondern einer ihrer Brüder. Ihre eigensinnige Wortwahl betraf nicht nur ihn, sondern auch seinen Wohnort: Den Namen «Karl-Marx-Stadt» durfte niemand von uns in den Mund nehmen.

      «Aber … warum bekommt er all die schönen Sachen und ich gar nichts?», fragte ich enttäuscht. «Die kann er sich doch selbst kaufen wie alle anderen Erwachsenen auch!» Wahrscheinlich hatte ich meine Großmutter nur in einem ungünstigen Moment erwischt, und sie versuchte nun mit Ausreden, ihre Überraschung für Weihnachten zu retten, überlegte ich.

      Doch sie beugte sich zu mir herunter und sagte im verschwörerischen Tonfall: «Du weißt doch, dass Onkel Ortwin drüben wohnt.»

      «Und deswegen bekommt er alles und ich gar nichts? Das ist gemein!»

      «Red keinen Unsinn!», wies sie mich zurecht und fügte streng hinzu: «Die Menschen da drüben bekommen gar nichts!» Energisch schnaufend legte sie eine Packung Kaffee ins Paket. «Deswegen schicken wir ihm ja diese Sachen. Onkel Ortwin kann nicht einfach in einen Laden gehen und sich Dinge kaufen, die er gerne hätte. Dinge wie diese bekommt man drüben eben nicht so leicht.»

      Ich hatte das damals ungerecht gefunden und sogar noch ein Stofftier von mir für Onkel Ortwin dazugelegt.

      Nun aber brachten die Raupenbaracken an der Autobahn die Wahrheit ans Licht: Dort konnte man doch alles kaufen! Ich fühlte mich belogen und betrogen.

      «Im Intershop kann Onkel Ortwin nichts einkaufen, dort kann man nur mit D-Mark bezahlen», belehrte mich meine Mutter, als ich sie darauf ansprach, und blickte finster geradeaus auf die Autobahn.

      «Die nehmen ihr eigenes Geld nicht?» Ich verstand das alles nicht. «Warum kaufen wir dann nicht dort ein, wenn da alles günstiger ist?» Ich wollte der Wahrheit auf den Grund gehen.

      «Wir werden diesen Staat nicht unterstützen!», erwiderte meine Mutter knapp und ließ keine weitere Diskussion zu.

      Schweigend sah ich aus dem Fenster. So würde ich nie erfahren, ob der Onkel dort tatsächlich nicht einkaufen konnte. Während ich grübelte, kam es mir so vor, als stünden fast ebenso viele DDR-Fahrzeuge am Rand der Autobahn, wie auf ihr unterwegs waren – meist mit geöffneter Motorhaube. Die fahrtauglichen Autos waren überwiegend voll besetzt, und ihre Insassen winkten mir stets freundlich zu, auch wenn sie in den kleinen Fahrzeugen arg zusammengequetscht wirkten.

      Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als meine Mutter laut triumphierend «Da ist wieder einer!» rief und auf den Straßenrand zeigte, an dem ein mit Tarnnetzen abgedeckter Polizei-Lada stand. Kurz darauf, vor dem nächsten Parkplatz, führte ein Volkspolizist am Rand der Autobahn ein seltsames, aber beeindruckendes Tänzchen auf, bei dem er so gekonnt mit einem schwarz-weiß gestreiften Stock herumfuchtelte, dass man sich gar nicht daran sattsehen konnte. Ein Verkehrssünder sollte zur Strecke gebracht werden. Meine Mutter hielt sich genauestens an die zugelassene Höchstgeschwindigkeit, denn auch in dieser Hinsicht wollte sie «diesem Staat kein Geld in den Rachen werfen».

      Das war auch nicht nötig, denn nach einer Weile erreichten wir die Grenze. Die westdeutsche Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung erschien mir wie ein Werbetrick: Nach der stundenlangen «Hunderterei» in der Zone sollte der freie Bürger auch endlich freie Fahrt haben. So flogen wir durch Niedersachsen, und nachdem wir die Autobahn verlassen hatten, führte uns eine Landstraße durch zahlreiche kleine Örtchen.

      «Toll, dass hier vor jedem Dorf steht, wie es heißt», freute ich mich.

      «Jetzt mach dich nicht dümmer, als du bist!», sagte meine Mutter ärgerlich.

      Meine Großmutter kam mir zur Hilfe. «Woher soll der Junge die gelben Schilder denn kennen? In Berlin brauchen wir so etwas schließlich nicht!»

      Bald erreichten wir eine kleine Anhöhe, von der aus man eine prächtige Einfahrt sehen konnte. Ein großes schmiedeeisernes Tor thronte zwischen zwei hohen Säulen, die den Weg zu einem kleinen Schloss bewachten.

      «Da wohnt Onkel Leberecht», flüsterte meine Großmutter.

      Wir passierten das mächtige Tor und fuhren über das alte Kopfsteinpflaster an hohen Scheunen vorbei auf das große alte Gutshaus zu. Es war hell gestrichen, hatte ein rotes Dach und kleine Gauben. An den Hausecken rankten Rosen empor. Die grünen Fensterläden waren geöffnet, und eine kleine Treppe führte zum Eingang, über dem ein prächtiges Vordach thronte.

      Onkel Leberecht öffnete die Tür. «Der Junge ist ja groß geworden, groß geworden, ni wa, ni wa!», rief er zackig aus und schüttelte mir die Hand. Wie hätte er wohl gestrahlt,