Bauer werden!»
Von der Diele, die die arme Haushälterin täglich mit kochendem Wasser schrubben musste, führte eine breite Treppe aus dunklem Holz hinauf ins Obergeschoss, das schon lange keine Rolle mehr im täglichen Leben meines Onkels spielte und nur noch selten von Gästen genutzt wurde. Onkel Leberecht ging voran, um uns die Zimmer zu zeigen. Düstere Bilder hingen an den Wänden. Und die Ahnen beobachteten uns finster aus ihren Holzrahmen, als wir die knarrende Treppe emporstiegen. Es fiel kaum Licht in den Flur, der Fußboden ächzte. Das Zimmer, das mir der Onkel zuwies, war ebenso trostlos wie dunkel. Alte Tapeten klebten an den Wänden, die staubigen Vorhänge waren zugezogen. Aus der Mode gekommene Möbel der frühen Fünfzigerjahre waren in diesem Raum abgestellt und warteten auf eine neue Verwendung. Es roch muffig. Hier war man lebendig begraben. Seufzend setzte ich mich auf die Bettkante. Ich hörte meine Mutter im Nebenzimmer fluchen.
«Im Dorf ist am Wochenende Schützenfest, Schützenfest, ni wa, ni wa!», schmetterte Onkel Leberecht, als wir gemeinsam Kaffee tranken.
Meiner Großmutter fiel fast die Kaffeetasse aus der Hand. Entsetzt sah sie den Onkel an. Meine Mutter ließ die Kuchengabel sinken und schaute wiederum ihre Mutter verblüfft an.
«Hurra!», rief ich und freute mich.
Es war noch früh am Abend, vielleicht gegen achtzehn Uhr, als wir zum Festplatz gingen, doch die ersten Betrunkenen wankten uns bereits entgegen. Schon von Weitem hörte man die Musik aus dem Festzelt. Onkel Leberecht steuerte auf einen Bierwagen zu, vor dem zwei Männer im Alter meiner Mutter standen. Einer von ihnen trug ein gelbes Sakko und eine schmale schwarze Lederkrawatte.
«Bitte nicht!», flehte meine Mutter leise.
Schon beim Kaffeetrinken hatte Onkel Leberecht unverhohlen die Meinung geäußert, dass meine Mutter endlich einen vernünftigen Mann finden solle. Einen vom Lande. Einen aus gutem Hause. Seine Familie solle schließlich guten Umgang haben. Und nun stellte sich heraus, was er damit meinte. Den Mann mit dem gelben Sakko machte er uns als Thomas Deuchter bekannt. Mit dessen Vater Eberhard sei er bereits seit Kindertagen befreundet, tönte er. Warum Eberhard Deuchter mit Onkel Leberecht befreundet war, wusste niemand mehr, jedoch war seine Familie für Onkel Leberecht ohne jeden Zweifel «guter Umgang».
Thomas Deuchter schien sich darum allerdings nicht zu scheren. Er war nicht einmal umgänglich. Ein Gespräch kam kaum in Gang, aber Onkel Leberecht bekümmerte dies nicht. Familie ist Familie. Punktum! Die abweisende Haltung Deuchters war förmlich mit den Händen zu greifen. Einzig sein Freund Georg Chrumm hielt das Gespräch am Leben, nicht zuletzt, weil er in Berlin arbeitete. Aber was genau er dort machte, begriff ich trotz all seiner Erklärungsversuche nicht. Dass er im Hahn-Meitner-Institut, einem Forschungsreaktor in Wannsee, irgendetwas mit Atomen zu tun hatte, war das Einzige, was ich damals verstand. Chrumm war ein zurückhaltender und vornehmer Herr, gut gekleidet und höflich, ein Mensch, zu dem man schnell Vertrauen fasste – das genaue Gegenteil von seinem Freund Thomas Deuchter.
Da Onkel Leberecht keinen Widerspruch duldete, waren Thomas Deuchter und Georg Chrumm am nächsten Tag zum Abendessen eingeladen. Nach dem Essen wollte ich mir die Traktoren anschauen. Meine Mutter war jedoch dagegen, und so schlich ich mich verstohlen aus dem Haus. Das Licht schien nur spärlich durch das halboffene Tor in die riesige Scheune. Eine Schwalbe flatterte im Giebel umher. Plötzlich hörte ich Stimmen. Ich erschrak.
«Warum hast du so lange gewartet, verdammt?», zischte eine Männerstimme.
Vorsichtig tastete ich mich an den großen Traktor heran und versteckte mich dahinter. Ölgeruch stieg mir in die Nase.
«Kannst du ihm vertrauen?»
«Ja, natürlich!», flüsterte ein anderer.
«Du unternimmst nichts weiter, verstanden? Ich veranlasse alles Notwendige.»
Ängstlich blickte ich an dem großen Motorblock vorbei. Im Dämmerlicht konnte ich die Gesichter der beiden Männer nicht erkennen. Ich sah nur, wie der eine dem anderen etwas in die Hand legte. Dann drehten sich die beiden um. Vor Schreck trat ich einen Schritt zurück, doch ich blieb mit dem Fuß an etwas hängen. Hektisch versuchte ich mich zu befreien, als auf einmal einige Schaufeln und Forken scheppernd zu Boden krachten. Ich schrie leise auf.
«Was war das?», raunte der eine.
«Wer ist da?», rief der andere drohend.
Ich zog meinen schmerzenden Fuß unter den Geräten hervor und wollte wegrennen. Doch als ich mich umdrehte, stieß ich gegen einen Mähdrescher und fiel hin.
«Komm heraus, wir wissen, dass du da bist!»
Unter der Maschine hindurch sah ich die Füße der beiden Männer auf mich zukommen.
«Was hast du denn hier zu suchen?», fuhr mich Thomas Deuchter an.
Neele van Lenk, 1985
Das dunkelste Kapitel in Neeles Kindheit begann am Abend des 19. Oktober 1985. An jenem Abend konnte ihr Vater sich nicht einmal in Ruhe die Schuhe ausziehen, als er nach Hause kam, weil sie ihm so aufgeregt entgegenrannte.
«An der Straße durch den Wald!», japste sie. «Ein Auto am Baum! Total kaputt! Die Feuerwehr hat Pulver verstreut. Keiner mehr da. Nur noch das kaputte Auto.» Wild fuchtelte sie mit ihren Armen umher und sprang von einem Satz zum nächsten, sodass ihr Vater offensichtlich alle Mühe hatte, ihren Ausführungen zu folgen.
«Ich weiß, Kleines, ich bin auch daran vorbeigefahren», versuchte er sie zu beruhigen.
«Ja, aber …» Bevor Neele ihren Satz beenden konnte, klingelte es an der Tür.
«Erwartest du jemanden?», fragte Hilmar van Lenk seine Frau, die auf dem Sofa saß, ein Magazin las und Schlünz, den Hund, kraulte.
Sie schüttelte nur den Kopf.
«Herr van Lenk?», fragte eine blonde Endzwanzigerin, nachdem der Vater ihr und ihrem Begleiter die Tür geöffnet hatte. «Mein Name ist Wendlandt, Kripo Berlin. Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?»
«Eine Dame von der Kripo!», rief der Vater erstaunt seiner Frau zu.
«Was möchte die Dame denn?», fragte die Mutter zurück, nahm ihre Beine von der Fußablage und erwiderte den Gruß, bevor sie sich zu ihrer Tochter drehte. «Neele, geh hinauf in dein Zimmer!»
Neele beobachtete noch, wie ihre Mutter das Klatschmagazin zur Seite legte, verließ dann aber widerspruchslos den Raum. Sie wusste, dass eine Diskussion zwecklos war. Sie hatte bessere Wege entdeckt, ihre Ziele zu erreichen. Unbemerkt blieb sie auf dem oberen Treppenabsatz sitzen und lauschte. Von dort aus hatte sie einen guten Blick in den offenen Wohnraum. Polizei – das fand Neele sehr spannend!
Ihr Vater setzte sich mit der Kommissarin an den Esstisch. Die fremde Frau redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern legte ihm ein Polaroid vor. «Herr van Lenk, haben Sie dieses Fahrrad schon einmal gesehen?»
Er schaute genauer hin, offenbar war die Aufnahme von schlechter Qualität. «Ja, ja», rief er nach einer Weile aus, «das ist doch mein Rad! Gott, was ist denn damit passiert? Das ist ja vollkommen demoliert. Gestern erst sprachen wir noch darüber. Meine Frau hat es einem – wie soll ich sagen? – Bekannten, oder besser, dem Vater eines Schulfreundes meiner Tochter ausgeliehen.»
«Sie haben es verliehen? Wie heißt denn der Mann, dem Sie es gegeben haben?»
«Georg Chrumm, er wohnt hier gleich um die Ecke», antwortete nun Neeles Mutter. Sie war vom Sofa aufgestanden und näherte sich dem Tisch, an dem der Vater mit der Kommissarin saß. «Eigentlich wollte er es gestern Abend wieder zurückbringen, aber anscheinend hat er es noch nicht getan. Er wollte es am Zaun abstellen. Oder ermitteln Sie, weil das Rad gestohlen wurde? Wir haben doch noch gar keine Anzeige erstattet.» Sie sah ihren Mann an und zog einen Stuhl zurück, um sich zu setzen. «Hast du …»
«Nein, Frau van Lenk, ich bin nicht wegen eines Diebstahls hier», unterbrach sie die Kommissarin mit ernster Miene. Sie stand auf, ging zu ihrem