Daniel Eichenauer

Das Geheimnis der Väter


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eine Straße gegangen. Ein Mensch ist zu Tode gekommen, und Sie haben nicht einmal einen Arzt gerufen, sondern sind einfach weitergegangen. Außerdem sind Sie einschlägig vorbestraft, und diese Vorstrafe ist noch gar nicht so alt. Haben Sie nicht heute ein Visum für eine Reise in die DDR beantragt?», fragte die Kommissarin Wendlandt scharf.

      Hilmar van Lenk wurde kreidebleich. «Ja, das habe ich. Aber es dauert ewig, bis das Visum erteilt wird.»

      «Manchmal auch nicht. In jedem Falle wird es vor Abschluss unseres Ermittlungsverfahrens ausgestellt. Und wer sagt uns, dass Sie dann tatsächlich zurückkommen?»

      «Das ist albern! Wenn ich abhauen wollte, dann bestimmt nicht in die DDR. Mein Antrag auf ein Visum hat doch nichts mit diesem Unfall zu tun. Ich bin Journalist und schreibe über innerdeutsche Themen. Das dürfte Ihnen nicht entgangen sein, sofern Sie nicht nur die Boulevardpresse lesen. Allein aus diesem Grund habe ich das Visum beantragt.»

      «Das mag alles sein. Tatsache aber ist: Wenn Sie erst einmal drüben sind, werden wir Sie nicht mehr befragen können. Den Rest erzählen Sie am besten dem Haftrichter. Die Strafe, die Sie wegen der Vorstrafe erwartet, wird ohnehin hoch genug sein, um Fluchtgefahr zu rechtfertigen.»

      Neeles Mutter war inzwischen zum Telefon gegangen und versuchte erfolglos, den befreundeten Anwalt zu erreichen.

      «Ich bitte Sie jetzt ein letztes Mal, mit uns zu kommen, anderenfalls wird mein Kollege unmittelbaren Zwang anwenden müssen!»

      Hilmar van Lenk gab sich geschlagen und sagte, er wolle noch ein paar Sachen zusammenpacken.

      Neele war wie versteinert. Als ihr Vater die Treppe hinaufkam und sie auf der obersten Treppenstufe erblickte, starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

       Neele van Lenk

      Neeles Ohnmacht und Verzweiflung über die Verhaftung ihres Vaters waren über die Jahre hinweg dem Ehrgeiz gewichen, mehr über die Umstände des dubiosen Vorfalls in Erfahrung zu bringen. Und diesmal würde sie nicht aufgeben, bevor sie nicht die Wahrheit ans Licht gebracht hatte! Sie war zwar in den letzten Jahren nicht untätig geblieben, dennoch war es an der Zeit, ihr Ziel nachdrücklicher als bisher zu verfolgen.

      Schon seit Jahren hatte Neele keinen Zweifel daran, dass ihren Vater nicht die geringste Schuld an dem Unfall traf. Es war kein normaler Unfall gewesen, so viel stand für sie fest. Und sie wollte wissen, warum man sie all die Jahre belogen hatte. Warum verdrängte ihre Mutter dieses Thema, das Neele seit damals nicht mehr losließ und sie sogar bis in ihre Träume verfolgte? Nein, dahinter steckte mehr! Niemals hätte sich ihr Vater einfach so umgebracht. Außerdem hatte er ihr seine Unschuld beteuert, als er sie am Abend seiner Verhaftung beim Lauschen auf der Treppe erwischt hatte.

      «Du warst damals ein kleines Mädchen, Neele. Was hätte er dir denn erzählen sollen?» Das war es, was ihr seitdem alle sagten. Aber in Neeles Augen war ihr Vater stets aufrichtig gewesen. «Neele, Kind, Aufrichtigkeit hat ihre Grenzen!», antworteten sie wieder im Chor, wenn sie das zu erklären versuchte. Doch Neele wollte das nicht hören. Natürlich war ihr klar, dass sich die Worte ihres Vaters an ein Kind gerichtet hatten, aber sie wusste auch, dass es die Worte ihres Vaters gewesen waren. Sollten die anderen sie doch für ein naives Mädchen halten! Sie wollte wissen, wer ihrem Vater das angetan hatte, wer ihn belasten wollte. Punktum!

      Bei einer dieser scheußlichen Familienfeiern hatte sie einen Bekannten der Eltern ihres Freundes Tino kennengelernt, Rainer Voß, der bei der Berliner Polizei Dienst tat. Zu Tinos Eltern hatte sie seit Jahren ein enges Verhältnis. Sie war öfter bei ihnen, selbst wenn Tino nicht dabei war, was in den letzten Jahren, seit er zum BWL-Studium nach Freiburg gegangen war und anschließend eine Tätigkeit in Hamburg aufgenommen hatte, häufiger vorkam. Neele und Tino hatten sich als Teenager kennengelernt. Er hatte eine Nachbarschule besucht, und Neele hatte von Anfang an nur Augen für ihn gehabt. Bald waren sie ein Paar geworden. Selbst seine Eltern und ihre Mutter hatten sich beinahe angefreundet. Doch seit Beginn des Studiums hatte er sich verändert und schien ein anderes Leben zu führen, eines, in dem nur noch wenig Platz für sie war und an dem er sie kaum noch teilhaben ließ. Am meisten schmerzte sie, dass er ihr gegenüber so tat, als wäre alles wie eh und je.

      Jedenfalls hatte sie es bei der besagten Feier nicht gewagt, Rainer Voß, den sportlichen Fünfzigjährigen, direkt auf den Fall ihres Vaters anzusprechen und ihn zu fragen, ob er ihr bei den Recherchen behilflich sein könne. Dieses Versäumnis wollte sie nun, als sie wieder einmal bei Tinos Eltern am Küchentisch saß, wettmachen.

      «Ja», dachte sie laut, den Kopf in ihre Hände gestützt, «wenn ich nur ein wenig in der Ermittlungsakte blättern könnte! Ich würde die Wahrheit erfahren und endlich Ruhe finden.» Sie machte einen Schmollmund und wiegte ihren Kopf sanft hin und her, sodass ihr Pferdeschwanz wippte. «Aber leider, leider kommt man an solche Akten nicht heran. Schade! Jammerschade! Es sei denn, man kennt jemanden bei der Polizei.» Sie setzte ihr süßestes Lächeln auf und sah Tinos Eltern an.

      Die zogen entsetzt die Augenbrauen hoch. Anscheinend wollten sie es um jeden Preis vermeiden, dass Neele in der Vergangenheit wühlte. Neele hatte ihnen oft genug von der ablehnenden Haltung ihrer Mutter berichtet. Und stets hatten sie versichert, dass sie das Verhalten der Mutter absolut nachvollziehen könnten. Sie hatten ihr geraten, dieses Thema ruhen zu lassen.

      «Ich möchte doch nur wissen, wie mein Vater starb», erklärte Neele deshalb flehentlich. «Ist das nicht verständlich?»

      «Natürlich», beruhigte sie Tinos Mutter, «natürlich! Allerdings weißt du doch schon, was damals geschah. Dein Vater hat sich selbst gerichtet, seine Schuld erdrückte ihn, und er hätte das Leben im Gefängnis nicht ertragen. Du hast uns doch selbst erzählt, wie sehr er seine Freiheit brauchte», sagte sie.

      «Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht!», brauste Neele auf. «Wegen eines Verkehrsverstoßes nimmt man sich doch nicht das Leben! Aber gut, wenn es tatsächlich die Wahrheit ist, finde ich mich damit ab. Denn dann ist der Zweifel ausgeräumt – der Verdacht, dass man mir seit Jahren aus irgendeinem Grunde nur die halbe Wahrheit erzählt. Wenn es tatsächlich so war, wie ihr sagt, muss niemand Angst davor haben, mir zu helfen.» Neele packte den Stier bei den Hörnern. «Fragt ihr Rainer Voß, ob er mich bei meinen Recherchen unterstützt?» Sie sah Tinos Mutter an. «Bitte! Oder soll ich ihn selbst anrufen?»

       Jakob Chrumm

      Ich wälzte gerade Bücher über Berlin. Stadtgeschichte, Sehenswürdigkeiten, ähnlich Langweiliges. Doch nichts half mir weiter. Keine Tipps, keine Anekdoten. Ich hatte Neele eine Stadtführung versprochen und suchte nach etwas Besonderem. Als ob sich Neele für das Baujahr des Brandenburger Tors interessierte! Entnervt legte ich die Bücher zur Seite. Ich seufzte. Dass es überhaupt so weit gekommen war, konnte ich mir nicht erklären. Das heißt, erklären konnte ich es mir schon, doch ich hatte es nicht beabsichtigt. Seit dem Abend der Party vor fast zwei Wochen dachte ich darüber nach, womit ich Neele überraschen konnte. Ich hätte mich eigentlich gegen diese Gedanken wehren müssen, schon alleine wegen Nina. Was nun?

      Plötzlich hatte ich eine Idee: die «Hafenbar»! Die freitägliche Schlagerparty dort musste man erlebt haben. Die «Hafenbar» lag im ersten Stock eines kleinen alten Hauses im Ostteil der Stadt und war seit DDR-Zeiten unverändert. Sie war die älteste Disco der Stadt und auch bei jungen Leuten sehr beliebt. Ein hölzerner Segelmast stand in der Mitte der Tanzfläche, Fischernetze, Bullaugen und Plastikfische mit Riesenaugen hingen an den Wänden. Nachts pflegten sich die Tänzerinnen um den Segelmast zu schlängeln. Die Besucher der «Hafenbar» waren ein offenes und fröhliches Völkchen, fahrtüchtig war von ihnen meist bald keiner mehr, und so kannte nach einer halben Stunde fast jeder jeden – falls man den Namen des Gegenübers im Lärm überhaupt verstand.

      Als wir die Bar am Abend betraten, tobte das Partyvolk bereits. Schlager wurden mitgegrölt, Arme flogen in die Höhe, Frauen wurden torkelnd übers Parkett gewirbelt oder kreischend in Hebefiguren gezwungen. Ein angetrunkener Gast schüttete versehentlich sein Getränk über meinen Arm aus und versuchte